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# taz.de -- Rotwild-Jagd in Deutschland: Ins Licht gelockt
> Gefährdet ist der Rothirsch nicht. Aber wäre ein anderer Umgang mit den
> Tieren nicht artgerechter und ökologischer? Ein Besuch.
Bild: Die Tiere leben meist sehr versteckt – wegen des Menschen
Es ist noch dunkel, als die Tiere in Bewegung kommen. Seit Stunden füllen
ihre heiseren, tiefen Rufe die kühle Luft. So laut, dass man sich auf dem
Weg übers Gras ständig umdreht, ob da nicht ein Hirsch direkt hinter einem
steht. Tut er natürlich nicht. Rotwild ist sehr menschenscheu.
Das Besondere wird gerade deshalb sein, dass man die Tiere an diesem
frühherbstlichen Morgen nicht nur hört, sondern nach Sonnenaufgang und den
ganzen Tag über auch sieht – stolzierend, röhrend, mitten in der offenen
Weidelandschaft des Guts Klepelshagen in Mecklenburg-Vorpommern. Es ist
Paarungszeit, die Brunft des Rotwilds kann man nur an wenigen Orten in
Deutschland derart ungestört beobachten.
Rund 2.300 Hektar misst dieses Gebiet der Deutschen Wildtier Stiftung.
Haymo Rethwisch hatte es Mitte der Neunziger gekauft, der Hamburger
Unternehmer und Jäger wollte sich für den Schutz von Natur und Wild
einsetzen. [1][Auch für Rotwild], das in Europa gar nicht bedroht ist, aber
der Geweihe wegen stark bejagt wird. Und zwar so, dass man es kaum noch zu
Gesicht bekommt.
Die Tiere ziehen sich [2][auf der Flucht vor den Jägern] aus ihrem
eigentlichen Lebensraum, dem Offenland, in den Wald zurück. Und wie viele
andere Wildarten sind Rothirsche wider ihre Natur fast überall nachtaktiv
geworden. Dass es auch besser geht, zugunsten der Tiere, scheint
Klepelshagen zu beweisen.
## Platzhirsch mit 80 Frauen
Am Nachmittag zuvor hat der Platzhirsch im Tal der Hirsche, ein sichtlich
greises Exemplar mit rundem Rücken und grauem Kopf, sein Kahlwildrudel noch
im Griff gehabt. Kahl heißt in der Jägersprache Rotwild, das nichts auf dem
Kopf trägt, also alle weiblichen und noch sehr jungen Tiere. Und
Platzhirsch ist jener Hirsch, der die Kämpfe um die Gunst der Frauen
bislang erfolgreich für sich entschieden hat. Nicht immer aus Kraft, oft
auch aus Erfahrung. Er schart die Frauen um sich; hier, im Tal der Hirsche,
sind es schätzungsweise 80 Tiere. Nacheinander wird der Hirsch sich mit
ihnen paaren – wenn er nicht noch einem Kontrahenten beim Imponieren oder
sogar im Kampf unterliegt.
Und Konkurrenz gibt es reichlich. Jetzt, in der Dämmerung des Morgens,
versucht sie, das Kahlwildrudel auseinanderzutreiben. Schöne, jüngere
Hirsche traben mitten hinein, die Tiere laufen auseinander. Andere warten
am Rand, röhren mit nach oben gestrecktem Kopf um die Wette. Die
intensivste Phase der Brunft ist schon vorbei, trotzdem sind noch Kampfrufe
zu hören, sogenannte Sprenglaute. Der Platzhirsch versucht mit heiseren
Rufen, die hartnäckigen Verfolger loszuwerden. Zehn Konkurrenten hat er an
diesem Morgen.
Im Klepelshagener Offenland wird nicht gejagt. Ein viele Hektar großes
Stück verwilderte Weidefläche mit Suhlen und Dickungen, also Verstecken aus
Schilf oder Büschen, dient als Ruhezone. Zwei Jahrzehnte lang darf das Wild
dort nach Auskunft der Stiftung schon ungestört sein. Stattdessen stellt
man den Tieren nach, wo man sie zum Schutz der jungen Bäume nicht haben
will: im Wald.
Und offenkundig [3][fühlen sich auch Wildschweine] und andere Arten im
Offenen inzwischen sicher. Man muss nicht lange warten, um Frischlinge mit
ihren älteren Geschwistern und Muttersauen, den Bachen, auch tagsüber
durchs Tal laufen zu sehen.
## Wald vs. Stangenforst
Kann man es nicht überall so machen? Christian Vorreyer, der das
landwirtschaftliche Gut in Klepelshagen verwaltet, meint: ja. „Ruhezonen
für Wild kann man überall einrichten“, sagt der studierte Forstwirt. Er ist
auch für den Laubwald mit vielen alten Buchen zuständig, der nicht nur das
Tal der Hirsche säumt. Satt und grün und dunkel ist dieser Wald, ganz
anders als zum Beispiel die brandenburgischen Stangenforste mit ihren
halbkahlen Kiefern. So einen schönen, robusten Wald sähe man gern häufiger
in Deutschland, am besten zusammen mit den Hirschen, der Rohrweihe, die
über dem Schilf rüttelt, und all den anderen, teils seltenen Arten, die
hier wie selbstverständlich neben dem land- und forstwirtschaftlichen
Betrieb gedeihen.
Doch sosehr man die Natur hier auch genießt und bewundert: Es ist
kompliziert. Zwar zeigen wissenschaftliche Studien, dass Ruhezonen im
Offenland nicht nur dem Rotwild zugutekommen. So haben Wildbiologen auf dem
US-Truppenübungsplatz im bayrischen [4][Grafenwöhr in einem fünfjährigen
Forschungsprojekt] festgestellt, dass jene Flächen besonders artenreich
sind, auf denen Rotwild äst.
Wo sonst wuchernde Pionierwälder die Pflanzen und Tiere des Offenlands
verdrängen könnten, hält der Verbiss das Land offen. Doch ob Ruhezonen auf
einen eher durchschnittlichen, also ökologisch weniger stabilen Wald so
klare Effekte haben, ist weitgehend unklar. Ähnlich sieht es mit der
Forderung aus, die Rotwildbezirke aufzuheben, die es in den meisten
Bundesländern noch immer gibt: Die Tiere sollen frei wandern können,
anstatt jenseits der abgesteckten Gebiete rigoros abgeschossen zu werden.
Genetische Studien scheinen diese Forderung zu stützen. [5][Die Analyse von
Erbgut] soll belegen, dass einige der festgelegten Rotwildgebiete die
Gemeinschaften räumlich auseinanderreißen. Mit der Folge, dass sich das
Wild zur Brunft zwangsläufig in tödliche Gefahr begibt, um andere Teile
seiner Population zu erreichen. Die genetische Durchmischung und damit auch
Gesundheit des Rotwilds könnte so behindert sein.
## Kaum Forschung
In einigen Bundesländern, etwa Schleswig-Holstein, wurden Rotwildbezirke
deshalb bereits abgeschafft. Doch mit welchem Erfolg? Es gibt kaum
Untersuchungen dazu. Gründliche Forschung wäre aber nötig, um etwa
herauszufinden, ob die freie Wanderschaft in erster Linie den Tieren, ihrer
Gesundheit und auch den Ökosystemen zugutekommt. Oder ob, wie einige
Kritiker meinen, die Forderung nach Freiheit nicht eher ein Vorwand ist, um
den Bestand insgesamt zu vergrößern – und mehr Jägern die Möglichkeit zum
Abschuss zu bieten.
Warum solche Untersuchungen bisher fehlen, ist unklar. Die Kosten sind
immer ein Argument, aber an Gelegenheiten für die Faktensuche fehlt es
eigentlich nicht. Auch Klepelshagen trägt mit seinem Anspruch, Jagd und
Naturschutz fortschrittlich zu verbinden, bisher recht wenig dazu bei, die
Wissenslücken zu verkleinern.
Ein wissenschaftliches Monitoring zu Beständen, Schäden im Wald, überhaupt
zu den Auswirkungen der Hege, also der Fürsorge fürs Wild im Jagdgebiet,
fehlt selbst nach zwei Jahrzehnten. Schon am Anfang hatte man sich eher auf
die Ideen des Stifters verlassen als auf wissenschaftlich Fundiertes.
„Haymo Rethwisch verfügte über große Erfahrung als Naturschützer und Jäg…
und entsprechend über ein großes wildbiologisches Vorwissen“, sagt
Stiftungsvorstand Klaus Hackländer. Deshalb sei das Tal der Hirsche
entstanden.
Hackländer ist selbst Wissenschaftler, er lehrt Wildtierbiologie und
Jagdwirtschaft an der Universität für Bodenkultur in Wien und ist der
Deutschen Wildtier Stiftung seit Langem verbunden. Sie hat seine
Habilitation finanziert, ihn ins Präsidium geholt, [6][gerade wurde er zum
Vorstand ernannt]. Man plane nun für die Zukunft, wolle Erhebungen machen,
etwa mithilfe von Wärmebildkameras und Drohnen. Es seien auch schon
Forscher zu Gast gewesen. Wie Gutsverwalter Vorreyer verweist Hackländer
aber auch auf die Kosten und das fehlende Personal.
## Klepelshagen und der große Rest
Man kann ohnehin nicht einfach vom vorsichtig genutzten Naturpark einer
privaten Stiftung auf zumeist intensiv bewirtschaftete Kulturlandschaften
im großen Rest schließen. Welcher Landwirt kann sich neben den ohnehin
geforderten Ausgleichsflächen Ruhezonen für Wild leisten, um Schäden vom
benachbarten Forst und Feld abzuwenden? Falls das überhaupt immer so
funktioniert.
Selbiges gilt auch für den Wald. Sowohl der alte Buchenwald in Klepelshagen
als auch die Moor- und Auenwälder in Grafenwöhr mit ihren riesigen
Offenlandflächen lassen sich kaum mit einem gemeinen, nicht einmal mit
einem großen deutschen Forst vergleichen. Insbesondere wenn ein trister
Stangenwald zu mehr Naturnähe umgebaut werden soll: Das klappt nur, wenn
von den wenigen gepflanzten jungen Laubbäumchen möglichst viele überleben –
und nicht zu kleinen Büschen abgenagt werden.
Und so bleibt der seltene Anblick, schön und für den Platzhirsch mit Happy
End. Nach zwei Stunden ist das Kahlwildrudel wieder vereint, die
Konkurrenten trollen sich in den Wald oder äsen noch ein bisschen. Sie
können es ja am Nachmittag noch mal versuchen.
10 Oct 2021
## LINKS
[1] https://www.deutschewildtierstiftung.de/wildtiere/rothirsch
[2] /Kritik-an-Reform-des-Jagdrechtes/!5745563
[3] /Wildschweinjagd-in-Brandenburg/!5658808
[4] https://besjournals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/1365-2664.13396
[5] https://link.springer.com/article/10.1007/s10592-020-01248-8
[6] https://boku.ac.at/news/newsitem/60963
## AUTOREN
Kathrin Zinkant
## TAGS
Jagd
Wildtiere
Hirsche
Biodiversität
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