# taz.de -- Ukrainer in Polen: Eine bequeme Last | |
> Polen zählt alle Ukrainer als Flüchtlinge, um keine weiteren Geflüchteten | |
> aufnehmen zu müssen. Das macht die Cafébesitzerin Inna Yarova wütend. | |
Bild: Durch Zertifikat offiziell beglaubigt: Zwei Gäste passen, neben Inna Yar… | |
Warschau taz | Der Ort ist leicht zu übersehen. Eingeklemmt zwischen einem | |
Lebensmittelladen und einer Eisdiele im Warschauer Stadtteil Stary Mokotów | |
befindet sich das Dobro & Dobro, Polens kleinstes Kaffeehaus. „Niemand ist | |
so klein wie wir“, sagt Inna Yarova stolz und deutet auf ein Zertifikat, | |
das auf der Theke steht. „Das haben wir sogar Schwarz auf Weiß.“ Zwei Meter | |
breit ist ihr Laden und etwa genauso tief. Trotzdem: Die große italienische | |
Kaffeemaschine darf nicht fehlen. Die Kaffeemühle surrt, es riecht nach | |
frischem Gebäck. Nur zwei Gäste können gleichzeitig drinnen stehen, die | |
anderen warten draußen auf ihren Kaffee. Dort hat Yarova Kissen auf | |
Holzpaletten gelegt – manchmal gilt es, aus der Not für sich das Beste | |
rauszuholen. | |
Das lässt sich nicht nur über das Geschäft der 26-jährigen Ukrainerin | |
sagen, sondern auch über ihr Leben. Vor zwei Jahren kam sie zusammen mit | |
ihrem drei Jahre älteren Mann Oleg in der polnischen Hauptstadt an. In | |
Kiew, wo die beiden acht Jahre lang lebten, nachdem sie sich noch als | |
Teenager im westukrainischen Chmelnyzkyj kennengelernt hatten, sahen sie | |
keine Perspektiven mehr, erzählt Inna Yarova, die vor ihr Café getreten | |
ist. | |
Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne, Korruption und dann dieses zermürbende | |
Gefühl von Unsicherheit – seit der Annexion der Halbinsel Krim durch | |
Russland im März 2014 und dem darauf folgenden Krieg im Osten der Ukraine | |
haben sich die Lebensumstände der Menschen überall im Land verschlechtert. | |
Die Folge war eine erhebliche Binnenmigration, von Osten in die Zentral- | |
oder in die Westukraine. Doch viele, vorwiegend junge Leute sind gleich | |
weiter nach Westen gezogen, nach Polen, hinein in die EU. | |
Mehr als eine Millionen Ukrainer sind ins Nachbarland gekommen. Sie | |
arbeiten vorwiegend als Reinigungskräfte, Taxifahrer, auf Baustellen oder | |
in der Gastronomie. Die wenigsten von ihnen dürften, so wie Inna, ihr | |
eigener Chef sein. Sie ist stolz darauf. Ihre erster Job in Warschau, bei | |
einem Softwareunternehmen, habe ihr überhaupt nicht gepasst, erzählt sie. | |
„Da wusste ich, dass ich mich selbstständig machen will.“ | |
## Die polnische Großmutter als Türöffnerin | |
Dabei half ihr ihre „Karta Polaka“, die „Polen-Karte“. Sie ist eine Art | |
Staatsbürgerschaft light, die im Ausland lebende Personen beantragen | |
können, die sich, wie es heißt, „der polnischen Nation zugehörig fühlen�… | |
Faktisch reicht dazu ein polnische Großmutter oder ein Großvater aus – und | |
den haben in der Westukraine, die vor 1939 zu Polen gehörte, viele. | |
Die „Karta Polaka“ wurde 2008 mit Blick auf diejenigen Menschen polnischer | |
Abstammung eingeführt, für die es ein Problem wäre, eine zweite | |
Staatsbürgerschaft zu führen, weil das Recht ihres Landes es nicht zulässt. | |
In Polen garantiert der Ausweis gewisse Vorteile, wie etwa Vergünstigungen | |
auf Nahverkehrs- oder Museumstickets. | |
Das Wichtigste aber ist, dass eine Arbeitserlaubnis nicht mehr nötig ist, | |
um einen Job zu finden. Unternehmensgründungen sind gar unter den gleichen | |
Voraussetzungen möglich wie für Polen. „Ukrainische Freunde in Warschau, | |
die keine ‚Karta Polaka‘ haben, mussten sich monatelang um ihre Dokumente | |
bemühen, bis sie ihr Geschäft anmelden konnten“, sagt Yarova. „Ich habe | |
bloß drei Tage gebraucht.“ | |
## Szydłos Logik | |
Zwei Monate hat sie nach einem passenden Ort gesucht. Im Februar 2016 hat | |
sie dann ihr kleines Café eröffnet. Es war derselbe Monat, als die | |
polnische Regierungschefin Beata Szydło eine Rede vor dem EU-Parlament | |
hielt. Sie sprach davon, dass seit dem Beginn der Ukraine-Krise 2014 eine | |
Million „ukrainischer Flüchtlinge“ nach Polen gekommen seien. | |
Diese Argumentation dient der nationalkonservativen Regierungspartei „Recht | |
und Gerechtigkeit“ (PiS) immer wieder als Argument gegen die Aufnahme von | |
Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und Afrika, wie sie die deutsche | |
Bundesregierung im Rahmen eines europäischen Verteilungsschlüssels fordert. | |
Die polnische Regierung hat sich bisher dagegen erfolgreich gewehrt. Sie | |
habe mit den „Flüchtlingen“ aus dem östlichen Nachbarland ja schon eine | |
große Last zu tragen. | |
Es gibt allerdings auch andere Stimmen. Erst kürzlich twitterte Jacek | |
Saryusz-Wolski, den die PiS im März dieses Jahres erfolglos als Kandidaten | |
für das Amt des EU-Ratspräsidenten gegen den verhassten ehemaligen | |
Regierungschef Donald Tusk ins Rennen schickte, dass aktuell 1,4 Millionen | |
ukrainische „Migranten“ in Polen seien, Migranten, nicht Flüchtlinge. | |
## „Die Leute hier sind keine Flüchtlinge“ | |
Sieht sich Inna Yarova als Flüchtling? „Nein, ich bin zwar hier | |
hergekommen, um ein besseres Leben zu führen“, sagt sie sichtlich | |
aufgeregt, „aber ein Flüchtling bin ich nicht.“ Sie schlägt gespielt mit | |
ihrer Faust auf den Tisch vor sich. Dabei verschüttet sie etwas Milch auf | |
ihre Hose. Die Stimme der eigentlich so gefassten Frau überschlägt sich | |
plötzlich. „Die Leute hier sind keine Flüchtlinge, sie kommen ins Land und | |
arbeiten, niemand hilft ihnen“, schiebt sie nach. Sie sei eine Ukrainerin | |
in Polen, eine Unternehmerin. Punkt. | |
Sie streicht sich dann ihre blonden Haare aus dem Gesicht, betrachtet sich | |
kurz in der Scheibe ihres Cafés. Nein, der rote Lippenstift muss noch nicht | |
nachgezogen werden. „Ich habe immerhin noch einen ganzen Arbeitstag vor | |
mir“, entschuldigt sie sich. „Da muss ich doch gut aussehen.“ | |
Die meisten Ukrainer in Polen sind wohl am ehesten als Wirtschaftsmigranten | |
oder Saisonarbeiter zu bezeichnen. Viele pendeln zwischen ihrer Heimat und | |
Warschau. Deswegen lässt sich nur schwer sagen, wie viele sich tatsächlich | |
zu einem bestimmten Zeitpunkt im Land aufhalten. Einige Schätzungen gehen | |
gar von 1,5 Millionen Ukrainern aus. Einer legalen Arbeit gehen aktuell | |
1,2 Millionen nach, zwei Drittel von ihnen schicken regelmäßig Geld an ihre | |
Angehörigen. Es gibt aber immer mehr, die dauerhaft in Polen bleiben | |
möchten. | |
## Ganze 20 Ukrainer haben Asyl erhalten | |
Geschätzt weit mehr als die Hälfte von ihnen stammt aus der Westukraine, wo | |
kein Krieg herrscht, so wie Inna Yarova und ihr Mann Oleg. Nicht zu Unrecht | |
weisen polnische Regierungsangehörige darauf hin, dass der Krieg im Donbass | |
im Osten negative Folgen für das ganze Land habe. Ob die Menschen nun | |
Flüchtlinge sind oder nicht, lässt sich gut daran ablesen, wie die | |
polnischen Behörden mit ihnen umgehen. Seit 2014 haben nur wenige tausend | |
Ukrainer einen Asylantrag in Polen gestellt. Lediglich 20 haben ihn gewährt | |
bekommen. | |
Die mit Abstand meisten integrieren sich sofort in den polnischen | |
Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft. Oft schon sprechen viele Ukrainer | |
nach einigen Monaten sehr gutes Polnisch – Polnisch und Ukrainisch sind | |
slawische Sprachen. Während andere in der Regel große Mühe haben, sich an | |
die polnische Grammatik mit ihren sieben Fällen zu gewöhnen, müssen | |
Ukrainer nicht einmal eine Sprachschule besuchen. | |
„Ich habe einfach zugehört“, sagt Inna Yarova selbstbewusst. Just in diesem | |
Augenblick begrüßt sie zwei ukrainische Freunde – auf Polnisch. Ihr Café | |
sei auch ein Treffpunkt für Ukrainer hier im Viertel, sagt sie. Bloß | |
einige hundert Meter entfernt auf der Marszałkowska-Straße befindet sich | |
das Ausländeramt. Viele Ukrainer, aber auch Weißrussen schauen danach bei | |
Inna Yarova vorbei und stehen draußen beisammen. | |
## Ukrainisch in Restaurant und Tram | |
Ukrainische Migranten prägen mittlerweile das Straßenbild polnischer | |
Städte. Vor allem Warschau, dessen Skyline ein Versprechen auf Wohlstand | |
ist, hat sich zu einem Magneten für Ukrainer entwickelt. 2013 noch war | |
Ukrainisch oder Russisch höchstens an ausgewählten Orten in der Stadt zu | |
hören, etwa am Busbahnhof. Heute sind die Sprachen überall wahrnehmbar, in | |
der Tram, im Supermarkt, in Restaurants. | |
Darüber hinaus sind die meisten Ukrainer jedoch beinahe unsichtbar. Sie | |
fallen zwischen den Polen nicht weiter auf, und sie teilen, wie sie selbst | |
oft sagen, viele kulturelle Eigenheiten mit den Polen, wie zum Beispiel das | |
Essen. Das sind Gründe, warum weit mehr als die Hälfte der Polen die | |
Migration aus der Ukraine positiv sieht. Was die Wirtschaft angeht, sind | |
es sogar mehr als 80 Prozent, wie eine Studie des | |
Meinungsforschungsinstituts CBOS für das Jahr 2016 zeigt. | |
Auch die Regierungspartei PiS weiß um den Wert der ukrainischen Zuwanderer. | |
Immerhin arbeiten Millionen von Polen selbst im Westen. Die fehlen im Land. | |
Die Ukrainer sind daher willkommene Arbeitskräfte für die rasch wachsende | |
Wirtschaft. Nur einige Gruppen am äußersten rechten Rand wie das | |
„Nationalradikale Lager“ protestieren hin und wieder gegen eine | |
„Ukrainisierung“ Polens. Und zu Übergriffen auf Ukrainer ist es zwar auch | |
schon gekommen, doch die sind selten. | |
## Anastazja hat Angst | |
Davon habe sie gehört, sagt Anastazja. Sie steht an einem belebten Platz in | |
Warschaus Zentrum. Ihren richtigen Namen möchte die Frau, die etwa vierzig | |
Jahre alt ist, nicht nennen. Sie habe, sagt sie, nur gute Erfahrungen mit | |
Polen gemacht. Nicht die polnischen Rechten bereiten ihr Sorgen, sondern | |
eine Gruppe in ihrer Heimat, die sie nicht näher beschreiben will. | |
„Ich habe Angst“, sagt sie. Kein Aufnahmegerät, keine Fotos, keine Details. | |
Dann erzählt sie ihre Geschichte: Sie ist russischsprachig und hat 2014 mit | |
ihrem Mann und den Kindern ihre westukrainische Heimat verlassen. „Als | |
Russen wurden wir im Zuge des nationalistischen Taumels während des | |
Euromaidan bedroht“, sagt sie. „Wenn wir zurückgehen, bringen sie uns um�… | |
ist sie sich sicher. In einer Kleinstadt habe sie ein Geschäft betrieben, | |
sie sei die „Russin“ im Ort gewesen, so viel verrät sie noch. Bis zum | |
Aufstand in Kiew habe sie nie Probleme gehabt. | |
Anastazja gehört zu den wenigen Menschen aus der Ukraine, die sich in Polen | |
um politisches Asyl bemühen. Aber das Verfahren zieht sich in die Länge. Ob | |
ihre Familie jemals den erhofften Status bekommen wird, ist unklar. „Ich | |
möchte hier kein Geld scheffeln“, sagt sie. „Wir wollen bloß Schutz.“ | |
In Deutschland einen Antrag zu stellen, komme für sie nicht infrage. „Da | |
sind doch schon zu viele Menschen.“ Mit Muslimen, Tschetschenen sei sie | |
anfangs in einem Flüchtlingsheim in der Nähe Warschaus gewesen. „Das waren | |
untragbare Zustände, die wollen sich nicht integrieren, sondern einfach nur | |
Geld“, sagt sie abschätzig. Sie bittet noch mal um Verständnis, keine Namen | |
genannt zu haben, und steht auf. | |
Hinter ihr an einem Tisch unterhalten sich zwei Gäste auf Ukrainisch. Die | |
Kellnerin nimmt die Bestellung auf, ebenfalls auf Ukrainisch. Dann begrüßt | |
sie einen anderen Gast, auf Polnisch, als wäre es immer schon so gewesen. | |
30 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Philipp Fritz | |
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