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# taz.de -- Solidarische Ökonomie in Argentinien: Selbstverwaltung unter Druck
> Um Jobs zu erhalten, haben argentinische Beschäftigte in der
> Vergangenheit stillgelegte Betriebe übernommen. Doch nun droht ihnen das
> Aus.
Bild: Im Wahlkampft gibt sich Präsident Mauricio Macri arbeiternah. Sein Polit…
Buenos Aires taz | Die Hoffnungen etlicher Beschäftigter und ihrer Familien
ruhen auf einer Gesetzesinitiative. Eingebracht hat sie Carlos Castagneto
vom Mitte-links-Parteienbündnis FPV. Sie soll die Fabricas Recuperadas
retten – eine besondere Form der solidarischen Ökonomie. Der Politikwechsel
in der argentinischen Regierung trifft sie hart. Der Ende 2015 gewählte
konservative Präsident Mauricio Macri hat mehrere Subventionen gestrichen
und die Märkte für eine Reihe von Importen geöffnet – das gefährdet die
Existenz der selbstverwalteten Betriebe. Der Abgeordnete Castagneto will
mit seiner Initiative erreichen, dass sie eine Schonfrist von zwei Jahren
erhalten – und in dieser Zeit weiter vom Staat unterstützt werden.
Fabricas Recuperadas sind Betriebe und Fabriken, die in Krisenzeiten von
ihren Belegschaften übernommen und wieder flott gemacht wurden. Ihre
volkswirtschaftliche Relevanz ist eigentlich gering. Die
Nahrungsmittelbranche und die Autoindustrie prägen die Wirtschaft
Argentiniens. Für die Beschäftigten waren und sind die selbstverwalteten
Fabriken jedoch oft die einzige Chance, den Arbeitsplatz zu erhalten.
„Selbstverwaltung bedeutet auch mehr Selbstverantwortung,“ sagt Lorena
Gomez von der Textilfabrik in Pigüé. Ihr sei diese Umstellung nicht leicht
gefallen. Ohne Vorwarnung hatte der größte Arbeitgeber in der Kleinstadt im
Süden der Provinz Buenos Aires 2004 über Nacht die Fabriktore geschlossen.
Wütend, enttäuscht und verzweifelt blockierte die Belegschaft den
Abtransport der Nähmaschinen und Färbereianlagen. Die Polizei ließ das
Gelände räumen, die EinwohnerInnen von Pigüé solidarisierten sich mit den
ArbeiterInnen. Die ehemaligen Beschäftigten gründeten die Cooperativa de
Trabajo Textiles Pigüé und nahmen die Produktion wieder auf. 140
Mitarbeiter sind derzeit beschäftigt. In drei Schichten wird vor allem
Stoff aus Kunststofffasern genäht und gefärbt.
Dass auf die Straße gesetzte Belegschaften stillgelegte Betriebe
übernehmen, geschieht aus schierer Not. In Argentinien schlägt das
neoliberale Wirtschaftsmodell deutlich brutaler zu als beispielsweise in
Deutschland. Wird ein Betrieb geschlossen, stehen die Beschäftigten meist
vor dem Nichts. Sozialpläne oder andere Ansprüche gibt es nicht. Auch das
Arbeitslosengeld wird zu wenig und zu kurz ausgezahlt.
## Öffentliche Subventionen
Nach der Krise von 2001/2 schnellte die Zahl der Kooperativen bis 2004 auf
169 hoch. Als die Wirtschaft 2008 erneut stotterte, waren es bald 250.
Heute gibt es 367 Belegschaftsbetriebe mit rund 16.000 Beschäftigten, wie
eine Studie der Universität Buenos Aires belegt.
Gut die Hälfte sind in den Branchen Metallverarbeitung, Nahrungsmittel,
Druckgewerbe und Textil zu finden. Und die Kooperativen wirtschaften
solide. Seit 2001 mussten lediglich 43 Fabriken ihre Tore wieder schließen.
Nur die starke Durchhaltebereitschaft der Belegschaften sichert das
Überleben der Betriebe.
Ohne staatliche Unterstützung sind allerdings die wenigsten
überlebensfähig. Und ebendiese Unterstützung hat Macri aufgekündigt, indem
er die öffentlichen Subventionen bei den Tarifen für Gas, Strom und Wasser
strich und den argentinischen Markt für Exporte öffnete. Die Maßnahmen
machen der gesamten Wirtschaft schwer zu schaffen, aber die prekären
Belegschaftsbetriebe sind in ihrer Existenz gefährdet.
Das gilt auch für die Textilfabrik von Pigüé. Vor sechs Monaten musste das
Nähen der Stoffaufsätze für Sportschuhe eingestellt werden. Seitdem
überwacht Textilarbeiterin Lorena Gomez das faltenfreie Aufrollen der
Stoffbahnen.
## Problem: Strom- und Gasrechnung
Die neuen Importe aus China haben dazu geführt, dass die Produktion
eingestellt werden musste und erst vor Kurzem auf deutlich niedrigerem
Niveau wieder aufgenommen werden konnte. Auch der Wegfall der Subventionen
macht den Arbeiter-Eigentümern zu schaffen. Die Energierechnung ist wegen
der Streichung der Subventionen seit Anfang 2016 von 30.000 Peso (etwa
1.500 Euro) auf jetzt 200.000 Peso (etwa 10.000 Euro) gestiegen.
Die Strom- und Gasrechnung der Cooperativa FaSinPat (Fábrica Sin Patrones –
Fabrik ohne Chefs) in der patagonischen Provinz Neuquén hat sich im selben
Zeitraum verfünffacht. Seit August 2009 ist die ehemalige Keramikfabrik
Eigentum der Kooperative. Matías Retamosa arbeitet seit fünf Jahren als
Mechaniker dort. „Bei mehreren Versorgern sind wir bereits mit rund 200
Millionen Peso verschuldet“, sagt er.
Die neuen Importe aus China und Brasilien machen dem Betrieb ebenfalls zu
schaffen. Drei Keramikfabriken seien deswegen bereits geschlossen worden.
„Eigentlich müssten wir es schaffen, zumindest einen Teil von deren Kunden
zu gewinnen“, sagt Retamosa. „Aber wir produzieren wegen fehlender
Investitionen und mangelnder Ersatzteile sogar weniger.“
Waren es vor zwei Jahren noch 180.000 Meter Fliesen, stellt die Kooperative
nun nur noch 70.000 Meter her. Von ursprünglich 470 Mitarbeitenden sind nur
230 geblieben. Ihre Hoffnung ist ein Kredit über 15 Millionen Peso, über
den sie mit der Provinz- und Nationalregierung verhandeln.
## Das Votum
Geld vom Staat ist nur eine Option, heißt es bei Textil Pigüé. Dort hofft
man auf ein Geschäft mit der regionalen Sportbekleidungsmarke Fibro. Die
Idee: die lokalen Fußballmannschaften in den Regionalligen auszustatten und
sie so als Werbeträger zu nutzen. Der Traum der Fabrikarbeiter ist, in zwei
Jahren Olimpo de Bahía Blanca zu gewinnen – den Erstligaclub in der 130
Kilometer entfernten großen Hafenstadt.
Und dann ist da ja noch die Gesetzesinitiative von Carlos Castagneto. Am
Sonntag wurden in Argentinien Teile des Parlaments gewählt. Ob der
Vorschlag zur Unterstützung der Kooperativen eine Mehrheit findet, hängt
vom Votum der Wähler ab.
22 Oct 2017
## AUTOREN
Jürgen Vogt
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