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# taz.de -- Antifa-Pop von Irie Révoltés: Allez, allez! Alerta, alerta!
> Irie Révoltés haben den Antifaschismus auf die Bühne gebracht. Nach 18
> Jahren ist nun Schluss – allerdings nur mit der Musik.
Bild: Irie Révoltés bei einem Auftritt im Jahr 2013
Jeder Protest braucht seine Musik, will er nicht zu einer Podiumsdiskussion
verkommen. „Das ist unser Haus!“ grölten die Hausbesetzer in den 80er
Jahren, Ton Steine Scherben machten den Sound dazu. Und für Punks war
„Deutschland muss sterben!“ in eben dieser Zeit ein gerne wiederholtes
anarchistisches Glaubensbekenntnis. Die Band Slime gibt es sogar noch. Und
heute? Wie hört sich der rebellische Beat der Millennials an?
„Allez! Allez!“ Carlos alias Carlito ruft diese Worte immer wieder in sein
Mikrofon, vor ihm erwidern gut 300 Menschen das französische „Auf geht’s!�…
so laut sie können. Der zweite Tag des Révoltés-Festivals in Hannover hat
begonnen. Gemeinsam mit Bruder Pablo alias Mal Élevé überrascht Carlos die
Fans. Gespielt wird auf einer grünen Wiese, ein paar Meter neben den
Zelten, in denen bis vor wenigen Momenten noch die Musikfans schliefen. Die
„Bühne“: Zwei Quadratmeter Holzplatte auf vier Rädern, hergezogen von ein…
Rasenmäher. Es ist ein spontaner Auftritt, kaum mehr als Straßenmusik, so
völlig anders als die Konzerte auf den großen Bühnen. Und doch: Die Menge
hüpft und tanzt, singt und schreit. Allerseits leuchtende Augen.
Dann verstummt mit der Gitarre das einzige Instrument. Was ist los? Der
Gitarrist kontrolliert den Verstärker, zeigt Pablo und Carlos dann aber –
sichtlich genervt – an: technische Probleme. Die Gitarre bleibt still. Nach
einem Moment der Verwirrung legen die Sänger die Mikrofone zur Seite und
beginnen gänzlich unverstärkt das nächste Stück. Das Klatschen des
Publikums ersetzt den Rhythmus der Gitarre, die Fans singen mit Irie
Révoltés im Chor. Das erste Wort wohlgemerkt als „Eirie“ gesprochen, aber
das weiß hier jeder. Nach nur zwei Liedern wollen die Brüder ihren Auftritt
beenden, doch zwei Fans schreien aus vollem Hals: „Ich wurde so gebor’n!“,
die Menge stimmt mit ein: „Ich werde so bleiben bis ich sterb’.
Antifaschist für immer!“
Das entsprechende Lied stammt aus dem Jahr 2010. Seitdem wird es praktisch
bei jedem Auftritt von Irie Révoltés gespielt, auf Demonstrationen gegen
Rechts schallt es aus den Boxen der Lauti-Wagen. Dieses Lied hat die Band
berühmt gemacht. Ebenso gilt: Irie Révoltés haben Antifaschismus auf die
großen Bühnen gebracht.
Denn wenn die „fröhlichen Rebellen“ in diesem Jahr zu ihrer letzten Revolte
blasen, werden sie in ganz Deutschland noch mal vor Tausenden Menschen
spielen. Die Karten für ihre Abschiedstournee sind begehrt, in sechs
Städten wird es Zusatzshows geben, in Hamburg sogar zwei. Die Band ist
kommerziell erfolgreich. Mit linker Gesellschaftskritik. Wie geht das
zusammen?
## Nestwärme und Freiheit
Carlos atmet tief ein und streicht sich mit der Hand durch seinen rötlichen
Bart. „Das ist ein ständiges Jonglieren mit Widersprüchen“, sagt er. Der
Schirm seiner Snapback Cap zeigt nach vorne, ohne seinen klaren Blick zu
verbergen. Carlos ist 37 Jahre alt. Pablo ist drei Jahre jünger, den Medien
präsentieren sie sich stets gemeinsam.
„Wir sind Teil des Systems. Wie alle“, beginnt Pablo. „Aber wir haben die
Entscheidung getroffen, nicht nur in besetzten Häusern spielen zu wollen.“
Seine Augenbrauen geben dem Gesicht einen eindringlichen Ausdruck, Bart und
Haare sind auf wenige Millimeter getrimmt. Äußerlich sind die Brüder
verschieden, doch ihre Lebenswege sind untrennbar miteinander verwoben.
Die Geschichte der Band beginnt in Heidelberg, nördliches
Baden-Württemberg, keine 100 Kilometer von der französischen Grenze
entfernt. Hier wachsen Carlos und Pablo Charlemoine als Söhne eines
französischen Vaters und einer deutschen Mutter in einer „internationalen
Familie“ auf, wie sie selber sagen. Politik wird am Küchentisch diskutiert,
mit den Eltern geht es schon früh auf Friedensdemonstrationen. „Das war
unsere Welt“, erinnert sich Pablo. „Wir haben von unseren Eltern früh
gelernt, dass man selbst etwas ändern kann.“
Die Nestwärme tauschen die Brüder recht schnell gegen mehr Freiheit ein.
Kaum volljährig, aber noch Schüler, zieht es Carlos in seine erste
Wohngemeinschaft. Im Alter von 17 Jahren folgt Pablo. Sie treffen eine
Entscheidung: Von nun an wollen sie miteinander nur noch französisch
sprechen. Die Zweisprachigkeit verbindet sie bis heute und prägt auch den
Stil von Irie Révoltés.
## Alles begann im AZ Heidelberg
Der ständige Wechsel zwischen Deutsch und Französisch ist an sich schon ein
Bekenntnis für ein grenzenloses Weltbild. Auch abseits der Texte schafft es
die Band, Gräben zu überwinden. Mal wird in Reggae-Manier verträumt die
Sonne besungen, nur um im nächsten Lied mit treibender Gitarre die
Geschwindigkeit zu erhöhen. Der Gesang geht immer wieder in Rap-Einlagen
über, dazwischen finden sich tanzbare Rhythmen, mal elektronisch, mal von
Blasinstrumenten gespielt. Es ist ein ständiger Abriss von Genregrenzen.
Der Stilmix wurzelt in den Persönlichkeiten von Carlos und Pablo. Als
Teenager verbringen sie in Heidelberg viel Freizeit im Autonomen Zentrum,
kurz AZ. Hier treffen Skater, Punks, Metalheads, die HipHop-Szene und noch
einige andere Subkulturen aufeinander. Pablo ist Punk und Teil der Antifa,
Carlos fühlt sich in der HipHop-Szene zu Hause.
1999 wird das AZ von der Stadt abgerissen – unter großem Protest der linken
Szene. Irie Révoltés, just gegründet, spielen im Jahr 2000 auf einer
Demonstration. Es ist erst der zweite Auftritt überhaupt. Ihr Set aus vier
Liedern spielen sie gleich zweimal, anschließend wird ein
Stellvertretergebäude besetzt. „Es war eine Mischung aus Frustration und
Aufbruchstimmung“, beschreibt Carlos die damalige Gefühlslage. Ein neues AZ
gibt es bis heute nicht. „Der Politik ist es gelungen, eine ganze Szene
auszuradieren“, meint Carlos.
In ihrer 18-jährigen Bandgeschichte spielen Irie Révoltés immer wieder auf
Demonstrationen oder als Unterstützung für Kulturzentren und soziale
Projekte. Zuletzt eine Woche vor den G20-Protesten in der Roten Flora in
Hamburg. „Die Flora ist der Stadt ein Dorn im Auge. Nach den Krawallen beim
G20-Treffen versuchen manche, das Zentrum zu kriminalisieren“, sagt Pablo.
Seine Band setzt sich für den Erhalt ein, man fühlt sich an die Geschichte
des Heidelberger AZs erinnert, auch wenn die Flora natürlich weit mehr
Beachtung findet.
Eine kleine Anekdote zeigt, was in Zentren wie der Flora passieren kann:
„Vor zehn Jahren haben wir dort Viva con Agua kennen gelernt“, erinnert
sich Carlos. Das Projekt aus St. Pauli setzt sich für eine bessere
Versorgung mit sauberen Trinkwasser im globalen Süden ein. Irie Révoltés
gehören zu den größten Unterstützern, machte die meisten Spender auf das
Projekt aufmerksam. „Da sind wir ein klein wenig stolz drauf“, sagt Carlos.
## Sieben Stunden später
Überhaupt: Irie Révoltés und die Projekte, das ist eine Verbindung wie Pech
und Schwefel. Da wäre zum Beispiel Rollis für Afrika. Der Verein, 2003 von
Pablo mit gegründet, verschifft ausrangierte Rollstühle und Gehhilfen in
den Senegal. Auf dem Révoltés-Festival in Hannover sind neben Viva con Agua
auch Jugend rettet vertreten, die mit einem Schiff im Mittelmeer
Seenotrettung betreiben. Dazu ein Stand von „Kein Bock auf Nazis“ und
allerhand Merch: Shirts, Turnbeutel und Sticker von „Schwarze Socke“ und
„Mob Action“ für den antifaschistischen Konsum.
Um 21.15 Uhr, sieben Stunden nach dem Auftritt auf dem Campingplatz, steht
die Band vor 4.500 Menschen. Als die Menge mit „Alerta, alerta,
antifascista“ einen beliebten Schlachtruf der linksautonomen Szene
anstimmt, beginnt Carlos mit einer Beatbox-Einlage, Pablo startet einen
Freestyle-Rap. Die Fans jubeln, die Überraschung zündet. Kaum zu glauben,
dass Carlito und Mal Élevé der Musik den Rücken zuwenden wollen.
„Wir wollen unser Baby frei lassen“, sagt Pablo. Viele Bands spielten so
lange, bis es intern nur noch Streit gebe. So weit wollen es Irie Révoltés
nicht kommen lassen. Bei Carlos ist ein Soloprojekt in Planung. Auch Pablo
gibt zu: „Ganz ohne Musik geht es nicht.“ Er will mehr Zeit in Projekte
stecken, vielleicht sogar als Seenotretter aufs Mittelmeer fahren. „Unser
Kampf für eine bessere Welt wird niemals aufhören!“ schreibt die Band auf
ihrer Website. Irie Révoltés, das war mehr als Musik. Es war ein
politisches Projekt. Ihr Abschied wird eine Lücke hinterlassen – nicht nur
auf Konzertbühnen.
23 Sep 2017
## AUTOREN
Björn Struß
## TAGS
Schwerpunkt Antifa
Antifaschismus
Straßenmusik
Musik
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gehen auf den Konzerten richtig ab.
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