# taz.de -- Die Wahrheit: Typ Schuhverkäufer | |
> Die Woche der verschwundenen Politiker (2): Dietrich Bahner, Harald | |
> Juhnke und die Demokratische Alternative. Ein Sittengemälde aus | |
> Westberlin. | |
Bild: Parteigründung für nur zwei Mark: Das Zeitdokument befindet sich noch i… | |
Anlässlich der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag hat sich die Wahrheit | |
entschlossen, in einer Serie akribisch ausgewählte Urgesteine der Politik | |
in Text und Bild wiederaufleben zu lassen. | |
Über die Friedenauer Rheinstraße tuckerte ein Lautsprecherwagen, aus den | |
Boxen schepperte scheußliche Schlagermusik, ab und zu unterbrochen von | |
einer Ansage, die „alle Berliner“ sowie „insbesondere unsere alliierten | |
Freunde und die uns freundlich verbundenen Gastarbeiter“ zum | |
„Gründungsfest“ einer neuen Partei in die Deutschlandhalle einlud. | |
„Eintritt nur 2,- Mark“, versprach ein Plakat an der Seitenwand. Halb | |
Westberlin war an diesem Herbstabend des Jahres 1984 auf den Beinen, um die | |
absonderliche Veranstaltung zu besuchen. | |
Es wurde einiges geboten, denn die merkwürdige Parteigründung wurde von | |
einem großen Staraufgebot begleitet. Angekündigt waren: „Harald Juhnke & | |
Heidi Brühl, Gunter Gabriel, Billy Mo und das Orchester Hugo Strasser“. | |
Solch eine, wie man damals sagte, „abgefahrene Truppe“ durfte man sich | |
nicht entgehen lassen, und so saßen nicht nur in Kostüme gepresste | |
Wilmersdorfer Metzgergattinnen im Saal, sondern auch die ganz in schwarz | |
gekleideten Gestalten der Schöneberger Nachtszene, die sonst das „Risiko“ | |
oder „Ex’n’Pop“ bevölkerten. Die ersten beiden Reihen der prall gefül… | |
Deutschlandhalle aber gehörten einer Traube aufgedonnerter Transen mit | |
ondulierten Haarhelmen, rauschenden Ballkleidern und hochhackigen Hufen. | |
Sie waren eigens für einen Künstler im vollen Feierornat erschienen: Harald | |
Juhnke. | |
## Existenzielle Langeweile | |
Heutzutage gibt es in der Parteienlandschaft die knüppelrechte Alternative | |
für Deutschland (AfD). Aber auch früher schon gab es „alternative“ Partei… | |
– wie die Westberliner Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz | |
(AL), die später in den Grünen aufging. Inzwischen fast vergessen ist | |
jedoch, dass der Berliner Schuhindustrielle und ehemalige | |
CDU-Bundestagsabgeordnete Dietrich Bahner junior bereits in den achtziger | |
Jahren eine neue Partei gründete: die Demokratische Alternative (DA). | |
Im Jahr 1984 war Westberlin in einem merkwürdigen Zwischenzustand. Die | |
Aufbruchstimmung der Endsiebziger, die Punk und New Wave und neue | |
politische Bewegungen inklusive dem Zeitungsableger taz hervorgebracht | |
hatte, war abgeflaut und einer existenziellen Langeweile gewichen, die sich | |
in Alltagskämpfen und einem ausschweifendem Nachtleben erschöpfte. Es war | |
noch drei Jahre hin bis zur 750-Jahr-Feier, die durch massive Subventionen | |
zum ersten Mal seit Jahrzehnten Verschönerungen der zerschossenen grauen | |
Nachkriegshausfassaden bringen sollte. Die DDR war gesellschaftlich völlig | |
erstarrt und wurde diesseits der Mauer als rückständige Ödnis oder gleich | |
gar nicht wahrgenommen. Der Mauerfall war noch kein Thema, und Westberlin | |
versank in einem muffigen lokalpolitischen Sumpf aus CDU- und SPD-Moder. In | |
diese Lücke wollte der Unternehmer Bahner stoßen, der eine typische | |
Westberliner Mischung aus großspurigem Provinzpolitiker und halbweltoffenem | |
Bourgeois darstellte, dem die Berliner CDU mit ihren schmierigen | |
Spitzenfiguren Landowsky und Lummer zu piefig war. | |
## Die ganz große Show | |
Bahner kannte seine Berliner Pappenheimer. Für Politik interessierte sich | |
jenseits des Schöneberger Rathauses niemand. Zwischen Charlottenburg und | |
Kreuzberg zog nur eins: die große Show. Und da gab es nur einen, in dem | |
sich die Hauptstadt der Schattenexistenzen wiederfand: Harald Juhnke – | |
dieser versoffene, aber mit Smoking, Fliege und Lackschuhen stets fein | |
gewandete Weddinger. | |
Juhnke war Mitte der achtziger Jahre an einem Tiefpunkt seiner Karriere | |
angelangt. 1981 hatte das ZDF den Vertrag mit ihm als Showmaster für seine | |
beliebte Abendshow „Musik ist Trumpf“ gekündigt. Wegen seiner | |
Alkoholprobleme galt er als nicht mehr zuverlässig. Aber mit Charme und | |
Chuzpe hatte er es geschafft, über sein Stammpublikum hinaus selbst die | |
Avantgarde zu begeistern. Juhnke kokettierte in dieser Zeit mit seinem | |
Alkoholismus und machte 1983 Furore mit einer Fernsehwerbung für Müller | |
Milch: „Ich heiße zwar nicht Müller, aber ich trinke immer noch gern … das | |
Zeug – Kalinka Kefir.“ | |
Ständig war der Entertainer im Gespräch, auch weil die Bild-Zeitung seine | |
Abstürze gern auf der Titelseite präsentierte oder einfach Geschichten über | |
ihn erfand – so just am 15. November 1984, an dem Donnerstag, als er für | |
den Parteigründer Bahner in der Berliner Deutschlandhalle auftrat. „Juhnke: | |
17 Millionen von Stahl-Erbin“, titelte Bild auf der Seite eins. Eine | |
Riesenente, wie sich schnell herausstellte. Es gab keine Erbin und keine | |
Millionen, sodass sich das Boulevardblatt selbst korrigierte. Am nächsten | |
Tag schlagzeilte Bild: „17-Mio-Juhnke wieder arm.“ | |
Und weil Juhnke und sein Rat Pack schlicht Angst hatten zu verarmen, weil | |
alle auf der Bühne wussten, dass ihre Zeit längst gekommen war, nahmen sie | |
jede Gelegenheit wahr, eine Mark zu machen, selbst wenn das Geld von einer | |
undurchsichtigen Type wie Bahner kam. Hauptsache, man konnte „My Way“ auf | |
Deutsch singen und so tun, als ob man die Las-Vegas-Größe eines Sinatra | |
hätte. | |
## Alternativer Arbeiterführer? | |
In diesem Größenwahn und der Selbstironie erkannten sich die Berliner | |
wieder. Und dafür zumindest hatte der Populist Bahner ein Gespür – wie auch | |
für den sich wandelnden Zeitgeist. Deshalb antwortete er 1985 in einem | |
ganzseitigen taz-Interview der Redakteure „Gosche & Mosche“ auf die | |
verwegene Frage „Haben Sie etwas gegen Volleyballer, Jogger oder Schwule?“ | |
gewieft: „Nein.“ | |
Dietrich Bahner war der Typ blonder Schuhverkäufer mit Ku’damm-Charisma. Er | |
stammte aus großbürgerlichem Haus und war als Erbe der Schuhladenkette | |
Leiser zum Millionär geworden. Sein Vater Dietrich Bahner senior hatte die | |
jüdische Firma Leiser arisiert und fiel nach dem Krieg selbstverständlich | |
wieder auf die großen Füße. Später ging er in die Politik und war | |
Mitbegründer der „Aktionsgemeinschaft Vierte Partei“. Sein Sohn griff die | |
Idee einer neuen rechten Sammelbewegung auf. Nach einem Skandal um dubiose | |
Altenheim-Geschäfte verließ der Junior den Bundestag, um seinem Vater | |
nachzueifern. Bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen holte die DA auf | |
Anhieb immerhin 1,3 Prozent der Stimmen. Was umso erstaunlicher war, weil | |
Bahner bei seiner Parteigründungsrede nur höflich beklatscht und vom | |
Publikum als Politclown abgetan wurde, nachdem er sich zum „alternativen | |
Arbeiterführer“ ausgerufen hatte. | |
Bahner verlor nach einiger Zeit die Lust an der Politik, seine Partei | |
verschwand so schnell im Orkus der Geschichte, wie sie gekommen war, und er | |
konzentrierte sich bis zu seinem Tod im Jahr 2009 wieder auf seine | |
zweifelhaften Geschäfte. Letztlich war das Parteiprogramm der DA dann doch | |
zu belanglos. | |
## Button für's Paralleluniversum | |
Was zählte, war der Abend mit Harald Juhnke, der nicht nur die Transen zu | |
Beifallsstürmen hinriss. Und als ob es nicht bizarr genug war, dass im | |
Vorprogramm ein schwarzer Sänger namens Billy Mo in einer Fantasietracht | |
seinen Hit „Ich kauf mir lieber einen Tirolerhut“ schmetterte, stand die | |
halbe Szenemeute am Schluss noch vor dem Bühnenrand, um ein Autogramm von | |
Harald Juhnke oder Hugo Strasser zu ergattern. Man konnte ja nie wissen, in | |
welchem Paralleluniversum das künftig nützlich sein würde. Möglicherweise | |
würde man eines Tages seinen Enkeln davon erzählen und müsste dann Beweise | |
vorlegen – wie den bis heute erhaltenen Button der Partei mit dem bemühten | |
Wahlspruch: „Die Demokratische Alternative ist endlich DA“. | |
19 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Michael Ringel | |
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