# taz.de -- Die Wahrheit: Rosie und der Taifun der Bilder | |
> Die Wahrheit-Short-Story: Ein später Erfolg stellt das bescheidene Leben | |
> einer verbitterten Langzeitlyrikerin gründlich auf den Kopf. | |
Bild: Japaner reisen und fotografieren noch mehr – häufig läuft jemand durc… | |
Rosie lachte und lachte. Und da sie recht ungeübt darin war, sah es nach | |
einer Weile aus, als ob ein Räuber weint. Mit zitternden Händen stopfte sie | |
das Schreiben ihrer Bank zurück in den Umschlag. „Drei Komma sieben | |
Millionen“, wiederholte sie die absurde Summe, von der sie nicht wusste, | |
wie sie auf ihr Konto gelangt war. | |
„San, ni, ichi“, zählte der Moderator den Countdown herunter, klatschte | |
dabei in die Hände und kreischte im Scheinwerfergewitter, das ihn umgab: | |
„Gefunden!“ Eingeblendet wurde das Gesicht einer Fremden, die in die Kamera | |
sah und so gewöhnlich wirkte, dass sie fast unsichtbar schien. Die Musik | |
schwoll an, und der Höhepunkt war offenbar erreicht, denn der Moderator | |
stolperte hastig durch seine Worte, als auch schon der Abspann begann. Die | |
wild geschnittenen Bilder versprachen in der nächsten Folge das Geheimnis | |
der Unbekannten zu lüften. | |
Zu ihrer Brotarbeit lief Rosie jeden Morgen über den Pariser Platz. Oft war | |
sie in Gedanken bei einem verzwickten Vers, der sich rhythmisch nicht | |
einfügen wollte ins Maß. Längst sah sie die Touristen nicht mehr, die schon | |
früh unterwegs waren und sich selbst und andere unentwegt ablichteten. Wenn | |
sie eine Pause machen konnte von der, wie sie es nannte, „Knastarbeit“, die | |
sie stets konzentriert, aber wie beiläufig erledigte, wandte sie sich | |
gleich poetischen Problemen zu. | |
## Verwackelte Fotos | |
„Taifun der Bilder“ hieß die beliebte Familiensendung am Sonntagnachmittag, | |
die Reisefotos aus aller Welt präsentierte. Und Japaner reisten viel und | |
fotografierten noch mehr. Am beliebtesten waren die verwackelten Fotos. Und | |
sobald jemand in unziemlicher Weise vor einem bekannten Monument posierte, | |
kommentierte der Moderator mit den hoch toupierten Haaren unter dem | |
Gelächter des Studiopublikums den Vorgang mit spitzen Worten. Viel Beifall | |
begleitete auch ein Spiel, bei dem zufällig ausgewählte Kandidaten aus dem | |
Publikum anhand unscharfer Bilder berühmte Orte erraten mussten, aber eher | |
ihre geografischen Unkenntnisse bewiesen. Der Höhepunkt der Show trug den | |
Titel „Meistfotografierter Fremder“. Diesmal jedoch schrie der grell | |
gekleidete Vogel nicht: „Gefunden!“. Auf dem eingeblendeten Bild war Rosie | |
zu sehen. | |
Vor Jahren hatte Rosie versucht, Geld zu verdienen. In ihrer abgedunkelten | |
Küche entwarf sie eine Werbekampagne für einen Bäckereikonzern, der | |
berüchtigt war für seine miserablen Werbeverse. Sie freute sich bereits auf | |
das Honorar, glücklich machte sie jedoch eher der Gedanke, dass sie selbst | |
als reiche Frau immer noch auf das Minutenlicht verzichten würde, wenn sie | |
durch den dunklen Hausflur zu ihrer Wohnung hinaufstiege. Reklame, nun ja. | |
Aber selbst Brecht hatte für Autos geworben. Ihre Werbung sollte zwei edle | |
Sandalenrömer zeigen. Der eine würde dem anderen mit dramatischer Geste | |
einen Laib Brot reichen und sagen: „Nimm dies, Brotus!“ Der Name der Firma | |
– und fertig! Rosie fiel aus allen Wolken, als das Schreiben mit der Absage | |
kam. Zwar lobte man ihre „interessante Idee“, aber bescheinigte ihr, dass | |
„der Claim bedauerlicherweise mit dem Charakter unseres Produkts | |
unvereinbar ist“. Seit wann haben Produkte Charakter?, fragte sich Rosie | |
und verbrannte den Brief. | |
Fast schon traurig blickte der Moderator in die Kamera und erklärte dem | |
Publikum den Fehlschlag. Wie immer habe man aus den vielen, vielen | |
Einsendungen ein Motiv ausgewählt. Diesmal sei es Berlin und das | |
Brandenburger Tor gewesen. Und tatsächlich habe man wie üblich auf den | |
unzähligen Bildern im Hintergrund eine Person entdeckt, die zufällig | |
hineingeraten war. Doch trotz intensiver Suche sei es nicht gelungen, die | |
Frau zu finden, und deshalb könne diesmal auch keinem Zuschauer die hohe | |
Belohnung zugelost werden. Also müsse man in der nächsten Folge leider auf | |
ihre vermutlich ebenso dramatische wie mysteriöse Geschichte verzichten. | |
Enttäuscht murrte das Publikum und scharrte aus Protest mit den Füßen. | |
## Hinter der Butterschranke | |
Die Katze guckte ganz mucksch hinter der Butterschranke. Sie durfte zwar | |
auf den Tisch, aber nicht weiter als bis zur Knäckebrotbox, die eine Grenze | |
bildete, hinter der das Butterfass stand. Dort wartete sie darauf, dass | |
Rosie mit dem kleinen Finger durch die Butter strich und ihr eine Flocke | |
hinhielt, damit sie die weiche Gabe abschlecken konnte. Doch heute harrte | |
sie vergeblich aus. Rosie betrachtete ihre Hände. Fünfundfünfzig war sie | |
jetzt. Sie war alt, arm, allein und fett. Nun gut, fett war sie nicht, eher | |
dürr – wie ausgezehrt. Und sie hatte ihr Ein- und Auskommen. Und ihre | |
Katze. Und dieses Geld. Wer es überwiesen hatte, stand zumindest fest: ihr | |
greiser Verleger. Der ihr mit keinem Wort mitgeteilt hatte, wo es herkam. | |
In dreißig Jahren hatte sie sieben Bücher in dem abseitigen Lyrikverlag | |
veröffentlicht. Schmale Bände voller, wie es in der einzigen je | |
erschienenen Kritik eines Literaturmagazins hieß, „durchdachter, aber | |
luftleer konstruierter Poesie“. Wahrscheinlich wusste der verdammte | |
Verleger selbst nicht, was das für Geld war. Wann hatte er ihr zuletzt | |
einen Brief geschickt? Vor zwei oder drei Jahren? Lebte er überhaupt noch? | |
Quietschend stürzten zwei Mädchen auf sie zu. Rosie, die gerade ein | |
Akrostichon überdachte, erstarrte, als die beiden ihre Mobilgeräte zückten. | |
Sie riefen ein merkwürdig klingendes Wort und hüpften wie von Sinnen auf | |
und nieder immer wieder. Als weitere Touristen auf sie aufmerksam wurden | |
und das Trio zu umkreisen begannen, wachte Rosie aus ihrer Starre auf und | |
durchbrach den Kreis, um hastig im Strom der Passanten unterzutauchen. | |
In drei Jahrzehnten waren genau 157 Exemplare ihrer sieben Bücher verkauft | |
worden. Alle paar Jahre hatte sie eins abgeschlossen und ihrem Verleger | |
übergeben, der es jedes Mal anstandslos in den Druck gab, wenngleich sich | |
nie ein Erfolg einstellte. Und nun sollte ausgerechnet der dritte Band, der | |
mit Abstand der erfolgloseste war, ihr größter Erfolg sein? War das Gedicht | |
überhaupt von ihr? Sie hatte noch nie ein Haiku verfasst! Aus dem Sonett | |
war in der Rückübersetzung ein Dreizeiler geworden: „Das Weiß im Auge / des | |
Eisbären schmilzt treibend / wie die Erdscholle.“ | |
## Aufrüttelndes Haiku | |
Allein bei YouTube wurde das Video 240 Millionen Mal angeklickt. Der | |
Durchbruch kam, als ein amerikanischer Entwickler der Fernsehshow in einem | |
Online-Antiquariat einen der Lyrikbände entdeckte. Mit einer neuartigen | |
Technik morphte er Rosies Bild. Seine Freundin wählte ein Gedicht aus und | |
sollte es übersetzen. Dass sie die Übersetzung ihrem polnischen Liebhaber | |
überließ, der kaum Englisch, geschweige denn Deutsch sprach, sollte der | |
„Eisbären-Hymne“, als die sie bald im Internet kursierte, nicht schaden. Im | |
Video bewegten, weich überblendet und mit sanfter Musik unterlegt, die | |
Eisbärin und die Dichterin ihre Lippen, um die Welt anzuklagen. Von den USA | |
aus breitete es sich über Mexiko und Brasilien, China und Russland in alle | |
Ecken des Planeten aus. Das „aufrüttelndste Haiku aller Zeiten“, so die New | |
York Times. | |
Rosie wusste nicht mehr, wann sie sich bei der Einrichtung ihres Lebens die | |
falschen Räume ausgesucht hatte, aber in der Nische ihres selbst gewählten | |
Elends hatte sie es sich längst gemütlich gemacht. Von dort führte eine | |
offene Tür direkt in den größten aller Räume – das Klagezimmer, in dem | |
Rosie täglich das Lamento der Zukurzgekommenen anstimmte. Mittags in der | |
Kantine. Zwar aß sie nicht gern in der Öffentlichkeit, an ihre Kolleginnen | |
hatte sie sich aber gewöhnt. Außerdem war das Essen preiswert. Ihr ewiges | |
Wehklagen kannten alle. Sie verdiene zu wenig, könne sich nichts leisten | |
wie die anderen, eher müsse sie einen zusätzlichen Job annehmen, ihre Rente | |
werde nie reichen, sie werde bis zum Umfallen weiterarbeiten müssen, am | |
Ende zahle die Zeche doch immer der kleine Mann. „Nicht dass mir Geld | |
wichtig wäre, sonst wäre ich nicht Lyrikerin geworden. Aber warum sind | |
Pornos wichtiger als Poesie?“ Pflichtschuldig kicherten die Frauen beim | |
Stichwort „Pornos“, hörten aber ansonsten kaum hin. | |
Die Werbeeinnahmen beliefen sich auf eine gigantische Summe. Der japanische | |
Sender besaß Anteile an einer Internetplattform, auf der das Video | |
millionenfach abgerufen wurde, und auch weil die Steuerbehörden momentan | |
mit immensen Strafzahlungen drohten, führte das weltumspannende | |
Medienunternehmen Rosies Anteile sehr korrekt ab. Mit Hilfe des | |
antiquarischen Buchs hatte man schließlich den Verlag gefunden, der Rosies | |
Rechte vertrat, und so stand die erfolglose Langzeitlyrikerin plötzlich am | |
Ende einer lukrativen Geldkette. | |
## Eis auf Boulevard | |
Jetzt konnte sie der Gemüsehändler nicht mehr zurechtweisen. Einmal hatte | |
sie in der Schlange an der Kasse gestanden und den übrigen Kunden ihr | |
ganzes Leid geklagt: Wie hoch die Preise seien, dass sie jede Woche weniger | |
im Einkaufsbeutel heimtrage, warum die Welt so ungerecht sei und nur Geld, | |
immer wieder Geld allein zähle . . . Wenn sie sich so sehr für Geld | |
interessiere, unterbrach sie der Händler, dann sollte sie sich doch einen | |
lukrativen Beruf suchen, in dem sie Profit mache. Dann könne sie, mischte | |
sich eine Dame im Kostüm ein, über einen Boulevard flanieren und in | |
Begleitung eines schmucken Herrn ein Eis zu sich nehmen. Empört raffte | |
Rosie ihre Waren zusammen und hastete nach Hause. Niemals hätte sie sich | |
auf einen Boulevard begeben, und erst recht nicht, um sich neben fremden | |
Männern an aufwendig zubereiteten, teuren Speiseeiswaffeln zu verköstigen. | |
Jederzeit könnte sie so etwas tun, davor aber bewahre sie mindestens ihr | |
Verstand. | |
Die Bankerin war gegangen. Als sie unangemeldet in der Tür stand, war sie | |
so jung, so elegant, so hübsch und so verlogen, dass es Rosie den Atem | |
raubte. Selbstverständlich war sie nur wegen des Geldes gekommen. In einer | |
amerikanischen Serie wären beide gleich im Bett gelandet, und dass sie sich | |
tatsächlich kurz darauf nackt unter dem Tisch wiederfanden, war allein | |
ihrer Frage geschuldet: „Sind sie auch Vegetarierin?“ Rosie ahnte, dass sie | |
sich beim Gemüsehändler erkundigt hatte, und als die geschäftige Besucherin | |
ihr beim Anziehen beiläufig ein paar Papiere vorlegte, die angeblich | |
dringend unterschrieben werden mussten, wusste sie, dass sie um das Geld | |
betrogen werden würde. Aber es war Rosie egal. Sie spürte, sie lebte. | |
16 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Michael Ringel | |
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