# taz.de -- Die Wahrheit: Eine Frau will nach unten | |
> Die Wahrheit-Epiphanie: Die britische Premierministerin Theresa May tritt | |
> zurück, geht in einen indischen Slum und wird zur Mutter der Herzen. | |
Immer wieder strahlen diese weißen Zahnreihen sie aus den dunklen | |
Gesichtern an, recken sich ihr schmutzige dünne Hände entgegen, um den | |
„neuen Engel von Kalkutta“ (Hindustan Times) zu berühren. Manchmal bleibt | |
dann ein lepröser Finger an ihrer blauweißen Tracht kleben, die blütenrein | |
leuchtet zwischen all den dreckigen Fetzen und Lumpen, die schlackernd die | |
ausgemergelten Körper umhüllen. Doch Theresa May – oder wie sie jetzt | |
heißt: „Schwester Theresa“ – kümmert das nicht. Sie, die sich lediglich… | |
ein h unterscheidet von der heiligen Teresa, der ursprünglich albanischen | |
Nonne, die im vorigen Jahrhundert nach Indien auszog, um die Unberührbaren | |
zu umsorgen. | |
## Brideshead Revisited | |
Die große knöcherne Britin ist in die Fußstapfen der kleinen verhutzelten | |
Samariterin getreten und nun auch eine „Missionarin der Nächstenliebe“. Mit | |
sanfter Hand spendet sie den Lahmen und Armen Trost, fährt ihnen anmutig | |
durchs borstige Haar, als wäre es eine Szene aus „Brideshead Revisited“. | |
Die früher so Unnahbare, roboterhaft jeden Körperkontakt meidende Dame ist | |
von der Saula zur Paula geworden. Theresa May ist die „Mutter der Herzen“ | |
(Washington Post). | |
Wenige Monate ist es nun her, da versank das ehemals große Britannien in | |
einem Sommer der Trübnis. Anschläge und Brände, Brexit und Terror, | |
Katastrophen und Desaster ließen das einst stolze Land schier verzweifeln | |
an den Unbill einer düsteren Zeit. Und eine Frau war schuld: das „Monster“, | |
wie selbst die lange treu ergebene Londoner Times die konservative | |
Premierministerin nannte. | |
Theresa May beging viele Fehler, machte falsch, was falsch gemacht werden | |
konnte. Aber so wie der „Islamische Staat“ jeden kleinen Unfall in den | |
Highlands als ein von ihm geplantes Attentat für sich reklamierte, so wurde | |
der unglückseligen „Lady mit dem schlechten Karma“ (Guardian) alles | |
angelastet, was schief lief auf der Insel. Und es lief einiges schief im | |
Sommer des annus horribilis 2017. Wie ein Mahnmal ihrer Amtszeit ragte aus | |
der Skyline von London die verkohlte Ruine des Grenfell Towers, von dessen | |
Hof die Überlebenden der Katastrophe sie jagten, als sie nach dem Rechten | |
schauen, aber niemandem die nach Rauch riechende, verkokelte Hand schütteln | |
wollte. | |
Und dann diese Nordiren! Nächtelang verhandelte sie mit diesen Irren! | |
Protestantische Betonisten, die an „Gottes Schöpfung“ glaubten, wie sie bei | |
jedem unwesentlichen Problem erklärten, um die Koalitionsgespräche zäh in | |
die Länge zu ziehen – bis zur totalen Erschöpfung, bis Theresa May allem | |
zustimmte, was diese Wahnsinnigen wollten. Harter Brexit, weicher Keks! | |
Egal! | |
Müde und wütend stürmte die Premierministerin in den Morgenstunden aus dem | |
Konferenzraum, riss die Tür zu ihrem Amtssitz auf. Luft, endlich Luft, | |
dachte sie noch, machte ein paar Schritte nach vorn und wurde von einem | |
weißen Lieferwagen an der Schulter erwischt. Der Milchmann. Die Downing | |
Street. Der Sonnenaufgang. Es war das Letzte, was Theresa May wahrnahm, | |
bevor sie mit dem Kopf aufs Pflaster schlug und das Bewusstsein verlor … | |
„A way a lone a last a loved a long a river run …“. Es rauscht ein Fluss. | |
Gar nicht stumm taumelt sie auf ihm stromabwärts. Niemand flüstert mehr, | |
die Verse schreien ohrenbetäubend im steigenden und fallenden Takt: „Talk, | |
Talk, Talk.“ Und alle Wasserarme vereinigen sich, bis sie ins Meer der | |
Stille münden. Dort reitet ein Pastor auf einem Ast. Er raunt und ächzt und | |
stöhnt und zischelt unter der Last des tauenden Geschwätzes. Sie will ihm | |
und dem Fluss entfliehen. Am Ufer wogen Weizenfelder, endlos bis zum | |
Horizont. Einmal barfuß in ein Feld hineinlaufen. Doch der auf den Wellen | |
reitende Gottesmann hält sie am Arm zurück. Sein Name ist Paisley, Ian | |
Paisley, und immer lauter und lauter ruft er: „No, no, no!“ | |
„Ma’am! Geht es Ihnen gut?“ Der wachhabende Bobby vor Number 10 war auf d… | |
gestürzte Theresa May zugeeilt. Hielt ihren Kopf in seinem Schoß wie eine | |
Pieta-Figur und weinte ein wenig. Er ahnte wohl, dass etwas Schlimmes | |
geschehen war. Denn seine oberste Dienstherrin öffnete nun die Augen, sah | |
ihn an und fragte benommen: „Bist du Gott?“ | |
Als Erstes verkaufte sie all ihre Schuhe. Auf Ebay. Selbst die im | |
Leopardenstil gemusterten. Ihre Lieblingsslipper. Bei den Stiefeln war sie | |
unschlüssig. Die könnten selbst auf einer Missionsstation irgendwo tief im | |
Dschungel nützlich sein. Das Geld spendete sie, allerdings nicht für | |
hiesige Belange. Den Briten ging es immer noch viel zu gut, da war sie sich | |
sicher. Wahres Elend gab es allein in Indien. Kalkutta, mon amour. | |
## Downton Abbey | |
Ein Engel namens Paisley hatte sie in ihr neues Leben geleitet. Der alte | |
krachende „Dr. No“ war ihr nach dem Unfall erschienen. Lang schon war „der | |
Vater des Zorns“ im Himmel. Doch ihr zu Ehren war er herabgestiegen und | |
hatte ganz anders gesprochen als noch zu Lebzeiten. Da rabaukte sich der | |
Krawall-Pfarrer durch Nordirland und geißelte die Papisten. Nun war er | |
sanft wie ein Lamm im Schafspelz und wies der Pastorentochter May mit | |
seinem knotigen Zeigefinger den Weg ins Heil. | |
Die Briten konnten ihr Glück gar nicht fassen. Die sonst so gnadenlose | |
Boulevardpresse überschüttete die von all ihren Ämtern Zurückgetretene mit | |
geheucheltem Mitleid und spann immer wildere Geschichten rund um die | |
„Epiphanie der Theresa“ (The Sun). Dass sie den Verstand verloren hatte, | |
ahnte man spätestens, nachdem sie ihre legendäre Fernsehansprache hielt, in | |
der sie über ihr schlechtes Karma sprach und davon, dass sie als | |
Missionarin nach Timbuktu oder Thiruvananthapuram gehen wolle, um dem Herrn | |
allein zu dienen. | |
Ihr Nachfolger Boris Johnson erwog kurzzeitig, sie in eine Anstalt | |
einweisen zu lassen, verzichtete jedoch darauf, als die Ärzte ihm | |
mitteilten, dass Mays Hirn sämtliche Inhalte ihrer politischen Karriere | |
gelöscht hatte. Nie würde die Öffentlichkeit von den Dummheiten, | |
Eitelkeiten und Feigheiten der Kabinettsmitglieder erfahren. | |
Und tatsächlich! Es auferstand Felix Britannia und sang voller Inbrunst | |
„Jerusalem“: „Und das heilige Lamm Gottes ward auf Englands lieblichen Au… | |
gesehen.“ Eben noch die Insel der Loser auf dem absteigenden Ast der | |
Geschichte, blühte das Vereinigte Königreich auf, als wäre es „Downton | |
Abbey“. Die gebeutelte Wirtschaft erlebte eine Renaissance, die Banker in | |
der Londoner City entfesselten einen Blitzkrieg gegen die elenden | |
Frankfurter Krauts und siegten furios. Hongkong kehrte China den Rücken und | |
heim ins Reich des Union Jack. Das Empire lebte auf, die Queen sollte 110 | |
Jahre alt werden und Prince Charles niemals König. Hooray, hooray, hooray … | |
## Reise nach Indien | |
Mit einer großen Feier wurde „Poor May“, wie die vormalige | |
Premierministerin von den Medien nur noch genannt wurde, in Southampton | |
verabschiedet, wo sie die „Queen Mary 2“ bestieg, die sie nach Bombay | |
bringen sollte, das endlich wieder so heißen durfte. Von dort fuhren | |
Theresa May und ihr Gatte mit der Bahn gen Osten, nach Kalkutta. Millionen | |
säumten den Schienenweg. Kinder liefen jubelnd neben ihrem Abteilwagen her. | |
Duftende Blumen regneten von den Häusern und bedeckten das Zugdach. Männer | |
warfen ihre Turbane in die Luft. Es war ihre letzte große Reise. Theresa | |
May war angekommen. | |
24 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Michael Ringel | |
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