# taz.de -- Tagebuch über Inzest: Manipulative Macht | |
> Eine anonyme Autorin schreibt über den sexuellen Missbrauch durch ihren | |
> Vater – und über ihre Lust. Sie bricht damit ein gesellschaftliches Tabu. | |
Bild: Über die Gefühle, die sexueller Missbrauch auslösen kann, wird oft ges… | |
Es gibt einige alte Märchen, die vom Tabu des Vater-Tochter-Inzests | |
erzählen, zum Beispiel „Das Mädchen ohne Hände“ der Brüder Grimm. Das | |
jüngst beim Klett-Cotta-Verlag erschienene „Inzest-Tagebuch“ hingegen ist | |
ein ganz und gar gegenwärtiger Text, der von einer bitteren Realität | |
berichtet. Darin schildert eine anonym bleibende US-amerikanische Autorin | |
auf 142 Seiten den jahrelangen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater. Die | |
massiven und oft brutalen Übergriffe begannen, als sie drei Jahre alt war, | |
und dauerten bis ins frühe Erwachsenenalter an. | |
Es ist ein Text, der das zerstörerische Drama des sexuellen Missbrauchs | |
entfaltet. Ein Text, der viel von dessen komplexen Mechanismen offenbart | |
und darum wichtig ist. Der aber auch, da er wenig erklärt, Fragen aufwirft. | |
„Wenn ich mich daran erinnere, wie mich mein Vater, als ich klein war, | |
fragte, ob ich ficken will, kriege ich schweißnasse Hände. In Babysprache | |
hat er das gefragt. Und ich darauf: ‚Au ja, komm ficken.‘ Ich hatte keine | |
Angst vor meinem Vater. Mein Vater war doch der, der mich fütterte, mich | |
anzog, mich zur Schule brachte, mir Nudeln kochte, mich badete (…). Es gab | |
zwei verschiedene Väter (…).“ | |
In diesen Sätzen steckt viel vom perfiden Kern sexuellen Missbrauchs, | |
insbesondere wenn er in einem so frühen Alter beginnt und innerhalb der | |
Familie stattfindet. Der Missbrauch geschieht durch Vertrauenspersonen, | |
deren manipulative Macht über das Kind unbegrenzt ist, von denen es | |
vollkommen abhängig ist. Ohne Hilfe kann es sich aus dieser Situation nicht | |
befreien. | |
Die Mutter der Autorin ignoriert alle Signale, sei es die blutige | |
Bettwäsche der Tochter, ihre Zeichnungen aufgespießter Mädchenleiber, die | |
schweren Selbstverletzungen, die sie sich bereits als Vierjährige | |
beibringt. Auch später, als sie es ihr erzählt, erfährt sie keine | |
Unterstützung. Bis heute leugnet der Bruder die Geschehnisse. Auch andere | |
Personen reagieren mit eisernem Schweigen auf das, was nicht wahr sein | |
darf. Eine Erfahrung, die viele Betroffene teilen. | |
Als die Autorin 21 Jahre alt ist, geschieht der letzte Übergriff. Sie | |
beschreibt das Erlebte in klarer Sprache. Die heute Anfang Vierzigjährige | |
hat ihre Geschichte durchdrungen, reflektiert. Sie literarisiert sie; | |
verdichtet Geschehnisse, lässt Ereignisse nicht ausschließlich der | |
Chronologie folgen, sondern Bildern, Assoziationen, Sinnzusammenhängen. | |
## Sexueller Missbrauch kann Lust bei Überlebenden auslösen | |
Vor allem eins sorgte aber bei Erscheinen des Buches in den USA für | |
Aufmerksamkeit: die Thematisierung der Empfindung sexueller Erregung, ja | |
Lust durch die Betroffene. | |
„Mein Vater ist mein Geheimnis. Dass er mich sexuell missbraucht hat, ist | |
mein Geheimnis. Doch das Geheimnis unter dem Geheimnis ist, dass es mir | |
manchmal gefallen hat. Manchmal wollte ich es, und manchmal hab ich ihn | |
verführt und ihn dazu gebracht, dass er mich fickt.“ | |
Es sind verstörende Sätze. Da Lust gemeinhin positiv besetzt ist, scheint | |
sie mit einer Missbrauchssituation nicht vereinbar. Dennoch waren viele | |
Beiträge in der US-Presse darum bemüht, diesen Sachverhalt differenziert | |
und in unaufgeregtem Ton darzustellen. | |
Das Magazin The Stranger etwa führt kenntnisreich aus, dass nicht wenige | |
Überlebende sexuellen Missbrauchs die Erfahrung der Autorin teilen und dass | |
dieser Punkt selbst für viele Missbrauchsopfer ein Tabu ist. Weil das | |
Empfinden von Lust das ohnehin von den Täter*innen vermittelte Gefühl oft | |
noch verstärkt, die Betroffenen seien selbst schuld am Missbrauch, hätten | |
„es“ selbst gewollt – was die Scham nur noch vergrößert. | |
Tatsächlich aber ist dieses Empfinden nicht das ganz Andere, Gegensätzliche | |
zum Leid, dem Ekel und der Gewalt der Missbrauchssituation. Es ist aufs | |
Engste mit ebendiesen Aspekten verknüpft. Gerade wenn, wie im | |
„Inzest-Tagebuch“ beschrieben, der Missbrauch in der Familie stattfindet | |
und das Kind keinerlei Unterstützung erhält, entfaltet sich die | |
zerstörerische Manipulation, ja Konditionierung durch die Täter*innen ohne | |
jedes Korrektiv. | |
## Ein unheilvolles Netz | |
Das Kind kennt dann nur sexualisierte Beziehungen. Aufmerksamkeit und | |
vermeintliche Zuwendung sind mit der Erfahrung sexueller Stimulation | |
unauflöslich verbunden. Es entsteht eine nur schwer aufzulösende Bindung an | |
die Täter*innen, in der Mehrzahl Männer. Kommt körperliche Gewalt hinzu, | |
macht das die seelische, emotionale Lage der Betroffenen noch qualvoller. | |
Die späteren Versuche, sich aus diesem unheilvollen Netz von Empfindungen | |
und Prägungen zu retten, erfordern oft übermenschliche Anstrengungen. | |
„Von ganz klein auf erzählte mir mein Vater, wir seien eins und ich nichts | |
weiter als ein Teil von ihm“, schreibt die Autorin. „Ich wuchs damit auf, | |
das verinnerlicht zu haben. Ich wuchs damit auf, ihn verinnerlicht zu | |
haben.“ Sie schreibt auch von großer Angst. Davon, dass sie sich von ihrem | |
Körper abspaltete. Dass sie den Sex zur Besänftigung des Vaters einsetzte, | |
und von starken Orgasmen. Immer aber ist die sie aufspaltende Ambivalenz im | |
Raum. Sie erzählt, wie sehr das Geschehene sie bis heute machtvoll | |
bedrängt. Wie es ihre Beziehungen prägt oder sich in Gestalt heftiger | |
Panikattacken zeigt, wenn sie das leise Schließen einer Tür, das | |
Zu-Boden-Gleiten von Kleidung hört. | |
Anders als in den USA neigt die hiesige Rezeption zu Skandalisierung und | |
Verharmlosung – und zeugt so von großer Ahnungslosigkeit. In der Welt raunt | |
die Rezensentin von „dunkler Erregung“ und registriert das Fehlen einer | |
„einhegenden Rechtfertigung“ der offenen Schilderung sexueller Lust. Der | |
Kollege von Deutschlandfunk Kultur konstatiert, dass die Autorin | |
„allerdings eine Frau [sei], die bis ins Erwachsenenalter so viel Lust mit | |
ihrem Vater hatte, dass sie sich nicht konventionell moralisierend als | |
Vergewaltigungsopfer beschreibt, sondern in expliziter, teils | |
vulgär-pornografischer Diktion alle Details der sexuellen Handlungen | |
offenbart“. (Was nur mag der Autor von Vergewaltigungsopfern halten, die | |
sich „konventionell moralisierend“ als ebensolche beschreiben?) Er sieht | |
eine „Gelassenheit fern jeder Wehklage“, die Autorin huldige angeblich gar | |
der Lust mit dem Vater. Von alldem scheint er sehr beeindruckt zu sein. | |
Was für ein Buch hat er gelesen? Eine aufmerksame Lektüre lässt solche | |
Schlüsse schlicht nicht zu. Wer meint, er*sie könne zu einem so komplexen | |
wie sensiblen Thema einfach drauflos schreiben, handelt verantwortungslos. | |
## Eine Hilfe, um nicht alleine mit der Thematik sein | |
Dennoch wäre ein erläuterndes Nachwort sinnvoll gewesen. Es hätte geholfen, | |
derlei zu verhindern, und denjenigen Leser*innen Orientierung bieten | |
können, die sich dieser in vielfacher Hinsicht nicht einfachen Lektüre | |
aussetzen wollen. Die dem Buch innewohnende Chance, eine am Thema | |
interessierte Öffentlichkeit zu sensibilisieren, wäre besser genutzt | |
gewesen. Und es hätte dafür keiner wissenschaftlichen Abhandlung bedurft. | |
Viele Überlebende sexuellen Missbrauchs werden das Buch vermutlich nicht | |
lesen können, weil es sie zu sehr in ihre eigenen Erfahrungen zurückwirft. | |
Anderen wiederum wäre es vielleicht eine Hilfe. Die Autorin, so ist einer | |
die amerikanische Ausgabe begleitenden Pressemitteilung zu entnehmen, hätte | |
sich weniger einsam gefühlt, hätte sie ein solches Buch lesen können. | |
Auch die Sorge, dass die expliziten Schilderungen den ganz Falschen | |
gefallen könnten – also etwa Pädophilen und Täter*innen –, ist berechtig… | |
Das aber kann kein Grund sein, der Autorin die Stimme zu verbieten. Oder | |
diese nur in Therapiezimmern oder Fachbüchern zuzulassen. Das Buch | |
offenbart ihren Gestaltungswillen – der zugleich als Wille zur Gestaltung | |
ihres eigenen Lebens zu deuten ist. | |
12 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Carola Ebeling | |
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