# taz.de -- Roman über Mütter und Töchter: Verformen, verdichten, verdrängen | |
> Seelische Beschädigungen werden über Generationen weitergegeben. Das | |
> schreibt Nadja Spiegelman in ihrem Roman „Was nie geschehen ist“. | |
Bild: Nadja Spiegelman, Tochter von Art Spiegelman, schreibt über ihre Mutter … | |
Es ist der Entschluss, verstehen zu wollen, was sie als Kind und | |
Jugendliche oft verstört hat: die plötzliche Wut der Mutter, ihre | |
unvermittelte Härte. Ihre Andeutungen über ihre Jugend, die sie immer mit | |
den Worten „Davon erzähle ich dir, wenn du älter bist“ wieder in sich | |
verschloss. Nadja Spiegelman beginnt ein viele Jahre währendes Gespräch mit | |
ihrer Mutter. Es ist klar, dass daraus ein Buch werden soll. | |
Nadja Spiegelman, geboren 1987, ist die Tochter von Françoise Mouly, | |
Kinderbuch-Verlegerin und Art-Direktorin des New Yorker. Noch bekannter | |
dürfe ihr Vater Art Spiegelman sein, der mit dem Comic „Mouse“ Aufsehen | |
erregte. Dafür befragte er seinen Vater, einen Holocaust-Überlebenden. | |
Die Autorin hingegen konzentriert sich ganz auf die Frauen der mütterlichen | |
Linie ihrer Familie, die in Frankreich wurzelt. Sie will der | |
Mutter-Tochter-Beziehung auf den Grund gehen – der eigenen wie auch der | |
zwischen Françoise und deren Mutter Josée. Nur so, erkennt sie, erhellen | |
sich die Biografie der Mutter wie auch die ihre tatsächlich. | |
## Kluge und feinfühlige Erzählung | |
So ist „Was nie geschehen ist“ nicht nur ein Buch, das anschaulich den | |
Prozess des Erinnerns – das Verformen, Verdichten, Verdrängen und | |
Zersplittern der Erinnerung – zeigt. Es ist auch eine kluge und feinfühlige | |
Erzählung, die ebenso konkret wie exemplarisch die Weitergabe von | |
seelischen Beschädigungen über Generationen vorführt – gerade wenn über d… | |
erfahrenen Verletzungen geschwiegen wird. | |
„Ich war die Erzählerin, die Erinnerungen, die nicht meine waren, in Form | |
brachte. Und das, so musste ich feststellen, war […] ein gewalttätiger | |
Akt.“ Es ist aber zugleich ein sehr intimer Akt. Spiegelman lässt die | |
Leser*innen teilhaben an den Gesprächen mit der Mutter, an den Gesten der | |
Nähe wie jenen von Distanz und Ohnmacht. | |
Oft sind das berührende Szenen. Ganze Passagen schreibt die Tochter dann | |
wie eine Erzählung: die Geschichte der Mutter, wie diese sie erinnert. In | |
deren Spiegel reflektiert die Autorin auch eigene wichtige | |
Entwicklungsschritte. Und erinnert ihrerseits die heftigen | |
Konfliktsituationen miteinander – die nun begreifbarer werden. | |
„Meine Mutter missachtete die meisten Gefahren“, heißt es zu Beginn. | |
Françoise Mouly ist eine ausgesprochen willensstarke und erfolgreiche Frau. | |
In den Augen ihrer Tochter gab es lange „nichts, was sie nicht konnte“. Mit | |
18 Jahren hat sie Frankreich Richtung New York verlassen. Bloß weit weg von | |
den Eltern, „einen ganzen Ozean“ dazwischenlegen. | |
## Das Ringen um Anerkennung | |
In den Gesprächen offenbart sich die zerstörerische Beziehung zu ihrer | |
Mutter Josée. Ein verzweifeltes Ringen um deren Anerkennung. | |
Selbstverletzungen, Aufenthalte in Psychiatrien. Eine erzwungene | |
Abtreibung. Ein Selbstmordversuch. Sie ist die Lieblingstochter des Vaters, | |
die Frage nach möglichen sexuellen Übergriffen verneint Françoise. | |
Wie anders fällt die Version Josées aus! Nadja Spiegelman besucht die nach | |
ihrer Scheidung beruflich erfolgreiche, mondäne und bis dato eher | |
abweisende Frau in Paris. Die Anfang 80-Jährige kann sich nicht an die | |
vielen Streite erinnern, nicht an die „Anfälle“ von Françoise. Sie wertet | |
die Ereignisse anders, sortiert sie zeitlich anders ein. Sie verdrängt, | |
erzählt die Geschichte für sich erträglicher. Oft aber, das macht die | |
Autorin deutlich, in tiefster Überzeugung. Nicht aus Bösartigkeit. Manchmal | |
können Dinge zurechtgerückt werden. | |
## Ein Bastard, eine Schande | |
Entscheidender aber sind die Muster, die die Enkelin erkennt: Josée erweist | |
sich als ungewolltes Kind. Gezeugt bei einer Vergewaltigung, behaftet mit | |
der Schande, ein „Bastard“ zu sein. Von der gescheiterten Abtreibung | |
erzählt die Mutter Mina der Tochter später ausführlich. Die ihrerseits um | |
die Liebe Minas kämpft, aber zur Großmutter abgeschoben wird. | |
Manchmal schieben sich die Bilder aus Françoise’ und Josées Kindheit auf so | |
bestürzende wie erhellende Weise übereinander – ohne in einer simplen | |
Eins-zu-eins-Gegenüberstellung aufzugehen. Und ein Exkurs über Mina macht | |
deutlich: Das Muster lässt sich noch weiter zurückverfolgen. | |
Sind Mina und Josée Monster? Die Autorin verneint. Deutlich wird, dass die | |
Frauen auch an den Konventionen ihrer Zeit gelitten haben: willensstarke | |
Persönlichkeiten, alle haben letztlich ungeheure Lebensenergie entwickelt. | |
Auch Françoise. | |
Aufgrund des Generationensprungs kann Nadja Spiegelman ihrer Großmutter | |
nahekommen. Für Françoise bleibt das Austarieren von Liebe und Wut, die | |
Frage nach Vergebung. Darüber können nur die Töchter entscheiden. Sie hat | |
sich, ebenso wie Josée, dem „Projekt“ der Tochter anvertraut. Ihr Resümee: | |
„Jetzt wissen wir, dass wir uns dem aussetzen können, aber immer auch den | |
Weg zurückfinden. […] Wir können diese Dinge berühren und trotzdem | |
überleben.“ | |
23 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Carola Ebeling | |
## TAGS | |
Mutter | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2022 | |
sexueller Missbrauch | |
US-Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Literatur aus Rumänien: Lakonisch in Bukarest | |
Lavinia Braniște erzählt von Weihnachtsfeiern, Anpassung und einem Leben im | |
ständigen Hader in Rumänien: „Null Komma Irgendwas“. | |
Tagebuch über Inzest: Manipulative Macht | |
Eine anonyme Autorin schreibt über den sexuellen Missbrauch durch ihren | |
Vater – und über ihre Lust. Sie bricht damit ein gesellschaftliches Tabu. | |
Chris Kraus' Buch „I love Dick“: Lernt, das weibliche Monster zu lieben | |
Bekenntnisliteratur einer neuen Art war Chris Kraus’ „I love Dick“, als d… | |
Buch 1997 erschien. Ihre Thesen über kreative Frauen sind aktuell. |