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# taz.de -- Türkei mit Reisewarnung für Deutschland: Der willkommene Böse
> Die Türkei warnt vor Reisen nach Deutschland. Ein gefundenes Fressen für
> die Projektionen deutscher Wahlkämpfer. Leider.
Bild: Eins-A-Projektionsfläche: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan
Berlin taz | Was für eine verkehrte Welt: Das türkische Außenministerium
hat am Samstag eine Reisewarnung für Deutschland herausgegeben. Damit dreht
die Türkei den Spieß um: Es ist die Antwort darauf, dass Deutschland
aufgrund der Festnahmen von deutschen Staatsbürger*innen seine
Reisehinweise für die Türkei verschärft hatte. Natürlich ist es absurd,
dass ausgerechnet ein Land, in dem derzeit zehn Deutsche aus politischen
Gründen inhaftiert sind, seine Bürger*innen davor warnt, nach Deutschland
zu reisen.
Viele machen sich nun darüber lustig. Kanzleramtsminister Peter Altmaier
(CDU) nannte sie auf Twitter einen „[1][schlechten Witz]“.
Doch so einfach ist es nicht. Denn manches, was in der Reisewarnung des
türkischen Außenministeriums steht, hinterlässt einen bitteren
Nachgeschmack. „In Deutschland gab es Feuer und andere fatale Ereignisse in
den Nachbarschaften und Häusern unserer Staatsbürger und anderer Ausländer,
die seitdem nicht aufgeklärt wurden“, steht da, und: „Politische
Verantwortliche in Deutschland gestalten ihren Wahlkampf zunehmend über
Türkei-Ablehnung und Verhinderung einer möglichen türkischen
EU-Mitgliedschaft. Die politische Atmosphäre ist zunehmend geprägt von
Rechtspopulismus und rassistischer Rhetorik.“ Das sitzt, denn es stimmt.
Natürlich ist es richtig und wichtig, dass die autokratischen Entwicklungen
in der Türkei kritisiert werden. Doch vieles, was im deutschen Wahlkampf
gesagt wird, ist Projektion.
## Gut ist, was nicht Erdoğan ist
Das läuft so: Die Identität der deutschen Gesellschaft konstituiert sich,
wie jede Identität, immer in der Abgrenzung von einem Anderen, also in der
Vergewisserung von allem, was wir nicht sind. Im Zweifel ist das alles
Despotische. Das hat den Vorteil, dass die deutschen Politiker*innen die
Guten sind, denn sie sind nicht Erdoğan, nicht Putin, nicht Trump. Egal,
was schiefläuft in Deutschland, es könnte viel schlimmer sein.
Diese Projektion lenkt von drängenden innenpolitischen Fragen ab. Das hat
sich besonders deutlich [2][im TV-Duell] mit Angela Merkel und Martin
Schulz vergangene Woche gezeigt.
Knapp 60 von 90 Minuten Sendezeit wurde über Geflüchtete, die Türkei,
Nordkorea und Trump gesprochen. Nach dem TV-Duell sammelten Menschen auf
Twitter unter dem Hashtag [3][#fragendiefehlen] die Themen, die nicht oder
nur kurz angesprochen wurden. Darunter nicht eben Unwesentliches wie
soziale Ungleichheit, Rente, Klimawandel, Rassismus und Rechtspopulismus in
Deutschland.
## Botschaft an eigene Wähler
Die Türkei eignet sich ganz besonders für deutsche Projektionen. Der
Türkei-Experte Günter Seufert hat in der [4][Talkshow von Sandra
Maischberger] vergangene Woche zu Recht darauf hingewiesen, dass die
deutsche Gesellschaft aufgrund der langen Migrationsgeschichte, die sie mit
der Türkei teilt, ihr Verständnis von sich selbst in Auseinandersetzung mit
der Migrationsbevölkerung ausgehandelt hat. Und bis heute, 60 Jahre später,
aushandelt.
Wenn Martin Schulz im TV-Duell sagt, als Kanzler werde er die
EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei beenden, und Angela Merkel anfügt, sie
habe die Türkei noch nie in der EU gesehen, richtet sich das weniger an die
Türkei als an deutsche Wähler*innen. Die Gespräche mit der Türkei
abzubrechen hilft weder den deutschen Gefangenen noch der türkischen
Opposition, die auf Unterstützung angewiesen ist.
Merkel und Schulz bedienen damit zu Wahlkampfzwecken ein vorhersehbares
Reiz-Reaktions-Schema, das letztlich Recep Tayyip Erdoğan in die Hände
spielt. Der kann mit dieser Steilvorlage die Gefühlslage vieler
türkischstämmiger Deutscher ansprechen, die sich von dem türkischen
Präsidenten besser vertreten fühlen als von deutschen Politiker*innen. Wie
das abläuft, war vor den Wahlen in den Niederlanden und bei den Verboten
von Wahlkampfauftritten türkischer Politiker*innen in Deutschland vor dem
Referendum zu beobachten.
Die Reisewarnung des türkischen Außenministeriums dürfte, ebenso wie der
verschärfte Reisehinweis von deutscher Seite, vor allem Signalwirkung nach
außen haben. Wie empfindlich deutsche Politiker reagieren, wenn die Türkei
die Projektion umdreht und spiegelt, was in Deutschland schiefläuft, zeigt
folgender Satz von Martin Schulz: „Deutschland ist kein Land, das jede
Demütigung aus der Türkei akzeptieren kann.“ Hört sich vertraut an – das
hätte umgekehrt auch ein türkischer Politiker sagen können.
10 Sep 2017
## LINKS
[1] https://twitter.com/peteraltmaier/status/906779731848257541
[2] http://www.ardmediathek.de/tv/ARD-Sondersendung/Das-TV-Duell-Merkel-gegen-S…
[3] https://twitter.com/hashtag/fragendiefehlen
[4] http://www.ardmediathek.de/tv/Maischberger/Erdogan-und-Deutschland-Kann-die…
## AUTOREN
Elisabeth Kimmerle
## TAGS
Türkei
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