| # taz.de -- Buch „The Music Of The Future“: Überall Sound | |
| > Der britische Autor Robert Barry beschäftigt sich in seinem Buch mit | |
| > einer alten Vision der Menschheit: der Allgegenwart von Musik. | |
| Bild: Wie umgibt uns Musik heute? Auch das fragt sich Robert Barry | |
| Es gibt eine berühmt gewordene Szene aus dem deutschen Film „Absolute | |
| Giganten“ (1998), in der Floyd, einer der jugendlichen Protagonisten, zu | |
| einem gleichaltrigen Mädchen sagt: „Weißt du, was ich manchmal denke? Es | |
| müsste immer Musik da sein, bei allem was du machst. Und wenn’s so richtig | |
| scheiße ist, dann ist wenigstens noch Musik da.“ Die ubiquitäre – uns | |
| überall umgebende – Musik wird hier als Utopie, als Segen dargestellt. | |
| Der britische Musikautor Robert Barry beschäftigt sich in seinem jüngst | |
| erschienenen Buch „The Music of the Future“ ebenfalls mit der ubiquitären | |
| Musik. Er stellt zum einen fest, dass die allgegenwärtige Musik eine sehr | |
| alte Vision der Menschheit ist und zum anderen – Stichwort Kaufhausmusik –, | |
| dass sie auch ein Fluch sein kann. | |
| So fragt sich Barry, der für das britische Musikmagazin The Wire schreibt, | |
| ob die omnipräsente Musik als Dystopie nicht schon längst real geworden | |
| ist. Er zitiert eine andere Filmszene: Jene aus George A. Romeros | |
| Horrorfilm „Dawn of the Dead“, in der Zombies durch ein altes Kaufhaus | |
| stiefeln und sich berieseln lassen. | |
| Während Barry in seinem sehr gut recherchierten Buch zunächst erzählt, wie | |
| die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts die Musik (Igor Strawinsky, | |
| Edgar Varèse, Luigi Russolo) bis heute beeinflusst und im zweiten Teil | |
| zurückgeht in die europäische Klassik des 19. Jahrhunderts und die | |
| Zukunftsentwürfe dieser Epoche, kommt er im dritten Kapitel („Third Act: | |
| 2079“) zu der Frage nach der Musikkonsumption heute: Auf welche Art und | |
| Weise umgibt uns Musik? Was ändert sich an der Rezeption, wenn wir Musik | |
| via YouTube und Spotify hören? Wie steuern Algorithmen unsere | |
| Klangwahrnehmung? | |
| Spannend, wie Barry historisch den Bogen schlägt und zwei verschiedene | |
| Arten musikalischer Allgegenwärtigkeit skizziert – wenn man so will die | |
| kollektive und die individuelle. Kollektiv etwa im Frankreich des 19. | |
| Jahrhunderts der Versuch seitens der Saint-Simonisten, Musik in der urbanen | |
| Umwelt zu „installieren“. | |
| Der französische Dramatiker Charles Duveyrier, Anhänger dieser Denkschule, | |
| träumt von einer Art Stadt als Klangkörper, einem zentral in der Stadt | |
| gelegenen Soundtempel. Barry kommt dann zur Erfindung des Telharmoniums | |
| Ende des 19. Jahrhunderts – ein elektronisches Instrument, mit dem Musik | |
| über die Telefonleitung übertragen werden konnte – bis hin zur | |
| Kaufhausmusik und der industriellen Produktion ebenjener durch das | |
| US-Unternehmen Muzak. | |
| Und heute? Die Streamingdienste sorgen dafür, dass der Einzelne immer von | |
| Musik umgeben ist, und versuchen, sich auf technischem Wege an das | |
| Individuum zu assimilieren. Begonnen, so Barry, hat diese Art des | |
| Generierens von Playlisten 1994 mit einem Programm namens „Ringo“: die | |
| erste Software, um Musik dem Geschmack des Hörers anzupassen, zu filtern, | |
| zu steuern. | |
| Das funktionierte zunächst simpel mit Bewertungen, die der Nutzer abgibt – | |
| ein Modell, das es bis heute gibt. Der Weg bis zur heutigen Nutzung von | |
| Spotify, Deezer, Tidal & Co war aber noch weit: Heute sollen Algorithmen | |
| sich der körperlichen Aktivität, der Psyche des Hörers anpassen. | |
| Interessant sind die parallelen Entwicklungen beim Lesen und Musikhören. | |
| Barry zitiert den US-Autor Erik Davis, der sagt, dass die „Datenwerdung“ | |
| von Musik große Möglichkeiten eröffne, er sich aber nicht sicher sei, „ob | |
| diese Transformationen wirklich tiefes und aufmerksames Hören unterstütze“. | |
| Der Terminus „Deep Listening“ erinnert an die Begriffe, die die | |
| Wissenschaftlerin und Literaturkritikerin Katherine Hayles schon vor zehn | |
| Jahren für die Wahrnehmung im Digitalzeitalter gebrauchte: Deep Attention | |
| und Hyper Attention. Als Beispiel führte sie das veränderte Leseverhalten | |
| im Printzeitalter („Deep Attention“ beim Lesen von „Stolz und Vorurteil�… | |
| und im Digitalzeitalter („Hyper Attention“ beim Spielen von „Grand Theft | |
| Auto“) an. Eines weiß man gewiss nach der Lektüre von Barrys Buch: Wir sind | |
| im Zeitalter des Hyper Listening angekommen. | |
| 12 Sep 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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