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# taz.de -- Die Wahrheit: Die Schranke, die kostet
> Nur blass zeichnen sich die hinter der Schranke liegenden Buchstaben ab –
> wie die Rundungen an einem zarten Sommerkleid ....
Bild: Immer mehr Nachrichtenmedien zäunen die Schmuckstücke unter ihren Artik…
Sie reizt mich auf geradezu erotische Art. Wie sie es versteht, Einblicke
zu gewähren, die Neugier zu steigern, ehe sie den nackten Tatsachen
plötzlich den Schleier überwirft – herrlich! An sie geglaubt hatte kaum
jemand. Von den einen wurde sie gefürchtet, von den anderen bespöttelt. Nun
ist sie da. Ob Welt, Zeit, MOZ oder NOZ – fast alle haben sie. Der seltsam
spröde Name lässt ihre verführerische Kraft nicht erahnen.
Sie, die Paywall, zeigt sich meist auf ein und dieselbe Weise: Der Artikel
wird gut lesbar eingeleitet, um nach wenigen Zeilen hinter einem weißen
Farbverlauf zu verschwinden. Nur blass zeichnen sich die darunterliegenden
Buchstaben ab, wie die Rundungen an einem zarten Sommerkleid. Ich bin von
Anfang an verzückt gewesen.
Leider ist es so, dass mein Vertrauen in die Medien, quasi parallel zu
jener Entwicklung, stark nachgelassen hat. Ich werde das Gefühl nicht los,
dass die großen Zeitungen oft nur noch standardisierte Mehrheitsmeinungen
reproduzieren. Als aufmerksamer Leser fühle ich mich jedenfalls an der Nase
herumgeführt, und es widerstrebt mir, Geld für ihre Artikel zu bezahlen.
Trotzdem bin ich neugierig. Und wenn ich über einen längeren Zeitraum
lustvoll verloren ins weiße Nichts des Bezahlschleiers starre, geschieht
etwas Erstaunliches: Die milchig-unscharfen Buchstaben nehmen Kontur an.
Erst vereinzelt, dann werden ganze Wörter und Sätze daraus. Ja,
tatsächlich: Ich kann durch die Paywall schauen!
Es ist unglaublich. Manch einer mag sich an „das magische Auge“ erinnern,
jene psychedelischen Bilder, denen das Auge plastische Formen zu entlocken
vermag, hat es erst einmal den optischen Dreh raus. Mit der Paywall verhält
es sich ähnlich. Dank etwas Übung werde ich schnell besser, und der Blick
durch die weiße Wand bereitet mir kaum mehr Mühe. Ich stelle fest, dass die
Texte dahinter deutlich besser sind als die des kostenlosen Angebots.
Da beginnt ein Artikel als Analyse der EU-Krise, wie ich schon Hunderte
gelesen habe. Doch dann verschwindet er hinter dem Vorhang und entpuppt
sich als hochinformativer Hintergrundbericht über die wahren Verbindungen
unserer Regierung. Wer weiß schon, dass Angela Merkel als Staatsoberhaupt
keineswegs frei agiert, sondern vor allem den Amerikanern als Handlangerin
in Europa dient?
Später beginne ich einen Reisebericht über Israel. Nach einer Einleitung zu
einer Fahrt durch die Negev-Wüste muss ich zum Weiterlesen meinen Trick
anwenden. Die Landschaftsbeschreibungen finden ihr jähes Ende. Entsetzt
lese ich von desaströsen politischen Verhältnissen, von einem repressiven
Gottesstaat, dessen Existenz es in Frage zu stellen gilt – höchst
interessant!
Logisch, dass für ein solch hohes journalistisches Niveau Geld nötig ist.
Deshalb habe ich mich bei mehreren kostenpflichtigen Portalen angemeldet –
und bin selbst überrascht! Den weißen Schleier lasse ich trotzdem nicht
fallen: Zur Steigerung des erotischen Kitzels bleibe ich beim Lesen
ausgeloggt.
30 Aug 2017
## AUTOREN
Leo Riegel
## TAGS
Paywall
Mediennutzung
Erotik
Kolumne Die Wahrheit
Internet
Comic
taz.gazete
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Getränke
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