# taz.de -- Kommentar Verhaftete Menschenrechtler: Autokratischer Sturmwind | |
> Der türkische Präsident Erdoğan lässt die Situation immer weiter | |
> eskalieren. Aber irgendwann wird auch er verlieren. Nur – was kommt dann? | |
Bild: Erdogan im Kreise seiner Liebsten (auch Nationaler Sicherheitsrat genannt) | |
RichterInnen, AkademikerInnen, Beamte, Soldaten, JournalistInnen und wenig | |
überraschend [1][auch MenschenrechtsaktivistInnen] – wer ist in der Türkei | |
noch nicht von Repressalien, Berufsverboten, Verhaftungen bedroht? Mit | |
bisweilen stalinistisch anmutenden Säuberungswellen, die vorgeblich den | |
Überfeind Gülen und den Terrorismus bekämpfen sollen, fegt der | |
autokratische Sturmwind durch das Land. | |
Erdoğan dreht die Eskalationsspirale immer weiter. Viele Opfer der | |
Repressalien wissen oft gar nicht, wie ihnen geschieht. Sie mögen nur | |
deshalb entlassen worden sein, um Platz für AKP-getreue Absolventen der | |
Imamschulen zu schaffen, oder sind Kollateralschäden einer Politik der | |
Angst, die neben populärem Rückhalt in bestimmten Bevölkerungsgruppen die | |
zweite Säule der Herrschaft moderner autokratischer Systeme ist. | |
[2][Die Verhaftung einer Landeschefin von Amnesty International] und gegen | |
Überwachung engagierter ausländischer Spezialisten für | |
Kommunikationssicherheit ist jedoch offensichtlich sehr gezielt. Jene, die | |
in einem eigenartigen Diminutiv „Menschenrechtler“ genannt werden, sind | |
tatsächlich gefährlich für de facto Diktaturen, aber auch die Vertreter | |
zunehmend illiberaler Demokratien. | |
Denn diese Menschenrechtler sind keine Kombattanten im Kampf um die | |
Machtpositionen im Staat – sie sind geduldige BotschafterInnen | |
individueller Freiheit und Demokratie, stellen also nicht den Herrscher, | |
sondern die Herrschaftsform selber in Frage. | |
## Solche Angriffe können gerade Ansporn sein | |
Der Versuch, diese BotschafterInnen einzuschüchtern, wird | |
selbstverständlich individuell Wirkung zeigen. SpezialistInnen der | |
einschlägigen Organisationen zum Beispiel werden es sich, ähnlich wie | |
kritische JournalistInnen, im Interesse der eigenen Sicherheit gewiss | |
zweimal überlegen, ob sie die Türkei noch in ihren Funktionen bereisen | |
wollen. | |
Auf längere Sicht aber können die Angriffe auf die Zivilgesellschaft nur | |
das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung hervorrufen. Schließlich sind | |
solche Angriffe ja gerade Anlass und Ansporn, aktiv zu werden, für jene, | |
die an Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung glauben. | |
Die Verfolgungswelle gegen alle wirklichen und herbeihalluzinierten Feinde | |
des Status quo kann so helfen, kritischen Geist und handfeste Opposition | |
hervorzubringen. Die delikate Balance zwischen Popularität und Repression, | |
auf der ein autokratisches System seine Herrschaft gründet, hat immer ein | |
Ablaufdatum – eines, das mit zunehmender Verengung der Eskalationsspirale | |
immer näher rückt. | |
Die Frage ist also nicht, ob das System Erdoğan sich dauerhaft halten kann, | |
sondern was ihm nachfolgen wird. Aus den entlassenen und verfolgten | |
FunktionsträgerInnen in Staat und Wirtschaft werden sich seine vielleicht | |
ganz ähnlichen Erben rekrutieren. | |
Die heute so bedrohten AktivistInnen, demokratischen PolitikerInnen und | |
JournalistInnen aber werden dann noch immer die hoffentlich zahlreichen und | |
lautstarken BotschafterInnen der Demokratie und individueller Freiheit | |
sein, denen es beileibe nicht genügen wird, ein anderes Gesicht an die | |
Spitze des Apparates zu stellen. | |
19 Jul 2017 | |
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## AUTOREN | |
Daniél Kretschmar | |
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