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# taz.de -- Nobelpreisträger Liu Xiaobo ist gestorben: Ein Leben für die Mens…
> Der chinesische Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo ist tot. Seine
> Hoffnung, ein freieres politisches System zu schaffen, sollte sich nicht
> erfüllen.
Bild: Tibetischer Protest für Liu Xiaobo Mitte Juli
Peking taz | Am Ende hatte Liu Xiaobo nur noch einen Wunsch: Er wollte ein
letztes Mal seine Frau Liu Xia um sich haben, die all die Jahre ihrer Ehe
stets zu ihm gehalten hatte und seit sieben Jahren selbst unter Hausarrest
steht. Diesen einen Wunsch gewährte der chinesische Staat ihnen und ließ
sie zu seinem Krankenbett. Am Donnerstag ist Liu Xiaobo mit 61 Jahren
gestorben.
Das war jedoch auch schon alles, was Chinas Führung an Barmherzigkeit dem
Friedensnobelpreisträger und seiner Frau zugestand.
In den Tagen zuvor hatte Liu Xia die Behörden geradezu angefleht, ihren
schwer an Leberkrebs erkrankten Mann nach Heidelberg ausfliegen und ihn von
deutschen Ärzten behandeln zu lassen. Auch die Bundesregierung hatte sich
dafür eingesetzt. Doch die chinesischen Behörden lehnten ab. Er sei nicht
mehr transportfähig, lautete die offizielle Begründung. Dabei waren ein
deutscher sowie ein US-amerikanischer Arzt, die ihn am Wochenende zuvor
untersuchen durften, noch zu einer anderen Einschätzung gekommen. Die
Botschaft der chinesischen Führung war klar: Liu sollte selbst im Sterben
noch bestraft werden.
Mit dem Tod von Liu Xiaobo ist einer der tapfersten und scharfsichtigsten
Kritiker des chinesischen Regimes verloren gegangen. Die chinesische
Regierung hatte den Philosophen, Literaturwissenschaftler und Dichter
bereits vor Jahren zu einem ihrer ärgsten Staatsfeinde erkoren – obwohl Liu
nur über eine einzige Waffe verfügte: das geschriebene und gesprochene
Wort.
## Untypische Sprache
In Hunderten Analysen, Interviews und Berichten dokumentierte er die
Schattenseiten des chinesischen Aufstiegs. Liu schrieb über das Schicksal
seiner Mitstreiter, die unter den korrupten Parteisekretären zu leiden
hatten. Er deckte die Lügen der herrschenden Kommunistischen Partei auf.
Und er schilderte die Ausbeutung von Millionen von Wanderarbeitern, die zu
niedrigen Löhnen die wahren Helden des chinesischen Wirtschaftswunders
waren.
All das tat er in einer unverblümten Sprache, wie sie für chinesische
Dichter bis heute untypisch ist – nahe dran an der aktuellen
gesellschaftlichen Realität und für all jene ein Augenöffner, die sich von
den vielen hochgezogenen blinkenden Wolkenkratzern und Shoppingmalls haben
blenden lassen.
Und das alles tat er unter Umständen, die alles andere als einfach für ihn
waren: Denn die Funktionäre der seit 1949 im Land herrschenden
Kommunistischen Partei, ihre Geheimpolizisten und Helfer ließen keine
Gelegenheit aus, ihn und seine Frau zu demütigen oder auf andere Weise zu
schikanieren.
Geboren und aufgewachsen inmitten der Wirren der Kulturrevolution der
sechziger und siebziger Jahre, musste Liu Xiaobo schon in jungen Jahren
miterleben, wie grausam das kommunistische Regime war. Der damalige
Staatsführer Mao Tse-tung hatte Millionen – vor allem junge – Leute dazu
angestiftet, mit sämtlichen Traditionen zu brechen. Er ermunterte sie, ihre
Eltern und Lehrer, Geschwister und Freunde zu denunzieren und zu
demütigten.
## Reisen nach Hawaii und New York
Lius Familie wurde, wie viele Stadtbewohner und besonders Akademiker in
jener Zeit, aufs Land umgesiedelt. Als „verwöhnte Städter“ sollten sie das
„wahre Leben“ kennenlernen. Vier Jahre mussten sie dort ausharren.
Als die Universitäten wieder unterrichten durften, konnte Liu in Peking
zunächst Literaturwissenschaften studieren, später wurde er dort Dozent.
Nach dem Tode Maos, als sich das Land allmählich öffnete, konnte Liu nach
Oslo, Hawaii und New York reisen, um dort zu forschen und zu lehren.
Als im Frühjahr 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens, dem
Tiananmen-Platz im Herzen Pekings, die Demokratie-Proteste ausbrachen,
kehrte er aus New York zurück. Er organisierte Diskussionen,
veröffentlichte Aufrufe. In dieser Zeit lernte er auch seine spätere Frau
Liu Xia kennen, eine damals bereits bekannte Dichterin.
Als in der Nacht zum 4. Juni Panzer auffuhren und damit begannen, die
Proteste blutig niederzuschlagen, bewahrte Liu etliche Aktivisten vor dem
Tod, indem er auf sie einredete, sich ja nicht selbst aufzuopfern und den
Platz zu verlassen. Sein Engagement auf dem Tiananmen brachte ihm seine
erste Gefängnisstrafe ein. Er musste für zwei Jahre in Haft – und kam erst
frei, nachdem er ein „Geständnis“ unterschrieben hatte.
## Für eine Demokratisierung
Dieses „Geständnis“ bereute er später tief. Es hielt ihn aber nicht davon
ab, auch weiter über die Missstände zu berichten und sich für eine
Demokratisierung seines Landes einzusetzen. Er ließ sich selbst auch dann
nicht einschüchtern, als die KP-Führung ihn für weitere Jahre ins
Arbeitslager steckte. Seine Freundin Liu Xia heiratete er 1996 in einem
Arbeitslager, es war seine zweite Ehe.
Dabei waren Lius Forderungen nicht einmal besonders radikal. Er forderte
ein, was einige der Machthaber in Peking zwischenzeitlich selbst immer
wieder vorbrachten: Rechtssicherheit, Verwaltungsreformen, eine
Demokratisierung der Gesellschaft. Seine ursprünglich oft sehr scharfen
Formulierungen wurden in späteren Jahren milder und verbindlicher. „Ich
habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass“, sollte er zu seinen Richtern
sagen, die ihn am Ende ins Gefängnis warfen.
Endgültig zum Verhängnis für ihn wurde ausgerechnet das Pekinger
Olympiajahr 2008, als die chinesische Führung sich als weltoffen und
tolerant präsentieren wollte.
Liu und seine Mitstreiter sahen die Zeit gekommen, eine sogenannte Charta
08 zu formulieren, die sich an der Charta 77 orientierte, dem
Bürgerrechtsappell des tschechischen Autors Václav Havel.
## Ein Sturm der Begeisterung
Darin entwarfen Liu und seine Freunde die Vision eines anderen China: eines
Landes, in dem die Gesetze über der Partei stehen und nicht umgekehrt – und
in dem verfassungsgemäß mehrere Parteien konkurrieren.
Innerhalb weniger Stunden verbreitete sich diese Petition im chinesischen
Internet und löste einen Sturm der Begeisterung aus. Viele Bürger in China
identifizierten sich damit. „Vor der Charta 08 mussten wir in Einsamkeit
leben“, beschrieb damals einer der Unterzeichner das Gefühl. „Danach
wussten wir, es gibt viele andere, die ähnlich denken und sich mehr
Mitbestimmung und Demokratie wünschen.“
Die chinesische Führung reagierte schnell und scharf: Im Dezember holten
Polizisten Liu aus seiner Wohnung und brachten ihn an einen unbekannten
Ort, seine Ehefrau wurde unter Hausarrest gestellt. Ende 2009 wurde Liu vor
Gericht gestellt und in einem Schauprozess wegen „Untergrabung der
Autorität des Staates“ zu elf Jahren Gefängnis verurteilt.
Als ihm 2010 der Friedensnobelpreis verliehen wurde, blieb sein Stuhl in
Oslo leer. Seine Frau Liu Xia stand weiterhin – ohne offizielle Anklage –
unter Hausarrest, sie durfte nicht ausreisen, um die Ehrung in seinem Namen
entgegenzunehmen.
## Haft und Schikane
Dass er trotz der Haft und Schikane all die Jahre nicht an Mut verlor,
hatte er der selbstlosen Liebe seiner Frau zu verdanken. „Deine Liebe ist
das Sonnenlicht, das über hohe Mauern springt und die Gitterstäbe meines
Gefängnisfensters durchdringt, jeden Zentimeter meiner Haut streichelt,
jede Zelle meines Körpers wärmt und mir erlaubt, immer Frieden, Offenheit
und Helligkeit in meinem Herzen zu bewahren, und jede Minute meiner Zeit in
Haft mit Bedeutung erfüllt“, schrieb er 2009, kurz bevor er verurteilt
wurde.
„Ich sitze meine Strafe in einem konkreten Gefängnis ab, während du in dem
unfassbaren Gefängnis des Herzens wartest“, schrieb er weiter. Dieses
Warten hat nun ein tragisches Ende genommen.
***
Zum zehnten Jahrestag des 4. Juni von 1989 verfasste Liu Xiaobo dieses
Gedicht:
## Unter dem Fluch der Zeit sind fremder die Tage
An diesem Tag vor zehn Jahren der Morgen, ein Blutkleid die Sonne,
zerrissner Kalender alle Blicke verharren auf diesem einzigen Blatt.
Die Welt starrte in Trauer und Wut
Die Zeit erträgt keine Unschuld.
Die Toten wehren sich, schreien bis ihre Kehlen aus Lehm heiser werden.
In der Zelle, die Kette in Händen
einen Augenblick muss ich schrein aus Angst,
im nächsten ist keine Träne mehr da für das schuldlose Sterben
man muss mit dem Dolch kalt in die Augen fahren
muss mit Blindheit bezahlen für das schneehelle Gehirn
Erinnern saugt einem das Mark aus
Weigerung ist der einzige Weg das vollkommen zu sagen.
An diesem Tag zehn Jahre später bewachen gut ausgebildete Soldaten mit
ernsten Standardgebärden die himmelschreiende Lüge
das Fünf-Sterne-Banner ist der Morgen der im Frühlicht flattert
man steht auf Zehenspitzen, reckt den Hals neugierig, erstaunt,
gläubig eine junge Mutter hebt die kleine Hand des Kinds in ihrem Arm der
Lüge zum Gruß, die den Himmel verdeckt.
Eine andere Mutter mit weißem Haar küsst das Bild ihres Sohns, er ist tot
sie öffnete ihm Finger um Finger
säubert peinlich die Nägel vom Blut
sie findet kein Stückchen Erde in dem er ruhen kann
sie hat nur das Bild an der Wand.
Sie geht zu den Gräbern ohne Namen man soll das sehn,
die Lüge eines Jahrhunderts
aus zusammengeschnürter Kehle kratzt sie erstickte Namen
von der Polizei abgehört und verfolgt
macht sie ihre Freiheit und Würde zur Anklage gegen das Vergessen.
Der größte Platz dieser Welt ist längst saniert
Liu Bang kam aus den Klammen als Kaiser Han Gaozu
dass seine Mutter es trieb mit dem heiligen Drachen war für ihn des Ruhm
seines Hauses
wie alt die Reinkarnationen vom Mausoleum zur Gedenkhalle stets werden
die Henker festlich bestattet in prunkvollen unterirdischen Palästen
über ein paar tausend Jahre Geschichte hinweg
diskutieren Tor und Tyrann die Weisheit der Bajonette
auf den Knien daneben, wen sie huldvoll begruben.
Noch ein paar Monate und hier ist ein Fest
die gut erhaltenen Leichen in der Gedächtnishalle
die Henker in ihren Kaiserträumen inspizieren gemeinsam die Mordinstrumente
auf dem Tiananmen wie der Erste Kaiser im Grab seine unsterbliche Tonarmee.
(Aus dem Buch „Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass: Ausgewählte
Schriften und Gedichte“, 2013, 416 Seiten, Fischer Taschenbuch. von Tienchi
Martin-Liao (Herausgeber), Liu Xia (Herausgeber), Liu Xiaobo (Autor),
Václav Havel(Einleitung), Hans Peter Hoffmann (Übersetzer), Karin Betz
(Übersetzer)
13 Jul 2017
## AUTOREN
Felix Lee
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