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# taz.de -- G20 in Hamburg: „Was geht Tayyip. Wir sind auch hier“
> Die G20-Proteste in Hamburg richteten sich vor allem auch gegen den
> türkischen Präsidenten Erdoğan – der Teil eines größeren Problems ist.
Am Wochenende wurden die Straßen von Hamburg zum Schauplatz von kreativen
Aktionen und gewaltsamen Auseinandersetzungen. Der Marsch der
Gerechtigkeit, der zur selben Zeit Istanbul erreichte, hatte mit den
Demonstrationen gegen den G20-Gipfel eine Gemeinsamkeit: die Forderung nach
Gerechtigkeit. Und es gab eine Person, die es geschafft hatte, zum
Gegenstand beider Demonstrationen zu werden: Recep Tayyip Erdoğan.
Es ist der Abend der 3. Juli. Helikopterlärm hängt über der Stadt. Die
Straßen sind voller Menschen. Alkohol aus den ortsansässigen Spätis wird
zur Rockmusik getrunken. Es sieht aus wie auf einer riesigen Party, um den
Untergang der Welt zu zelebrieren. Der lasche Wasserstrahl der Wasserwerfer
heizt die Menge nur weiter an.
Hamburg gilt als links geprägt. Hier eint die Menschen, wenn auch in
unterschiedlicher Ausprägung, der Gedanke: „Wir wollen weder die Politiker
noch die Polizei! Verschwindet hier.“ In den darauf Folgenden Tagen
ereignet sich kleinere und größere hedonistische Aktionen. Doch die Hölle
bricht erst aus, als die Staatsoberhäupter des G20 die Stadt erreichen.
Es ist der 7. Juli: „Welcome to hell“. Während hunderte Menschen auf den
Demonstrationsplätzen die Straßen fluten, landen die Flugzeuge der
mächtigsten Regierenden der Welt am Hamburger Flughafen. Unter den
Demonstrierenden sind auch viele Menschen aus der Türkei.
## Den Kuchen in die Fresse knallen
In der Menge befindet sich Eren aus Köln. Er trägt ein Schild mit der
Aufschrift „Was' geht Tayyip. Wir sind auch hier.“ Eren war damals auch bei
den Protesten im Gezi-Park dabei. Doch nach den Explosionen in Suruç hat er
die Türkei verlassen. „Bei diesem Massaker habe ich viele Freunde verloren.
Der Staat zwingt mich regelrecht, mich zu radikalisieren. Humor und gute
Laune war bei Gezi unsere größte Waffe. Ich bin nach Deutschland
zurückgekehrt, um meine Laune wieder zu erlangen“, so Eren.
„Die Verantwortlichen für die von Menschen gemachten Probleme der Welt
haben sich hier versammelt, um den Kuchen weiter untereinander aufzuteilen.
Wir sind hier, um ihnen den Kuchen in die Fresse zu knallen“, so Eren
weiter. Tolga, ein Freund von Eren, hat sich für die Proteste gegen G20 aus
Istanbul nach Hamburg aufgemacht. Er wolle, „alles was ihm und dem Planeten
gehöre, sich wieder zurückzuerobern.“ Tolga, hat reichlich Erfahrungen mit
Polizeigewalt in Istanbul gemacht. Er erzählt, dass man ihn unter dem Satz
„von der Polizei halb tot geprügelt“ googeln kann. Tatsächlich kann man e…
Zwei Männer in Blaumännern fallen in der Menge auf. Je eine Cola in den
Hosentaschen, beobachten sie neugierig und gleichsam zurückhaltend die
Gegend. Kamber und Kazim nennen sie sich. Ursprünglich stammen sie aus der
mittelanatolischen Stadt Kayseri, şderzeit arbeiten sie als Bauarbeiter in
Hamburg. Kazim meint, dass sich die Gesellschaft blind stelle. „Sind diese
Wichser nicht verbrüdert mit Gülen gewesen? Auch wenn es dauern wird: die
Machthabenden werden alle irgendwann weg vom Fenster sein“, so Kazim
weiter.
Die Demonstration geht gleich los. Die treibende Kraft der Proteste, die
sich aus autonomen Gruppen zusammensetzt, der sogenannte schwarze Block
formiert sich am Kopf des Demonstrationszuges. Zwei Jugendliche laufen
hinter dem schwarzen Block. Ercan und Metin sind gebürtige Hamburger. Nach
ihrer Einstellung zum türkischen Präsidenten gefragt, macht sich Ercan über
seinen Kumpel Metin lustig und sagt: „Der hier ist ein Erdoğan-Anhänger.“
Metin dementiert das nicht und sagt: „Ich bin mir zu 100 Prozent sicher,
dass sie alle seit dem Erstarken Erdoğans, Angst vor uns haben. Das sage
ich als in Deutschland lebender Türke.“
## „Los, Journalist, los!“
Metin ist da ganz anderer Meinung. „Ich bin Lehrer. Ich arbeite für den
deutschen Staat. Seit Erdoğans autoritärem Führungsgebaren werden wir nach
unserer Einstellung zu ihm beurteilt. Für seine Vergehen werden wir hier
bestraft.“ Derweil gesellt sich ein dritter Kumpel zu den beiden Freunden:
„Los, Journalist, los. Zeig allen: die kurdische Jugend stellt sich gegen
den Faschismus“, brüllt er los.
Die Polizei verkündet über ihre Lautsprecher, das Vermummte nicht an der
Demo teilnehmen dürfen. Die Menge buht und wird ungeduldig. Plötzlich
prescht die Polizei mitten in die Menge hinein. Die Hölle bricht aus.
Flaschen, Steine, Pfefferspray und harter Wasserstrahl. Die Menge rette
sich mit letzter Kraft über die Wände in Richtung Hafen. Es wird immer
schwieriger, zu atmen.
Eine zweite Gruppe bewegt sich in Richtung der Barrikaden. Die Polizei kann
die Menge nicht aufhalten. Unzählige Flaschen und Steine, geworfen von
unzähligen Menschen regnen genauso wie auf die Polizisten auch auf die
Demonstrierenden. Viele brüllen Polizsten an, die Gewalt gegen sie
anwenden. Niemand weicht von der Seite. Es war wirklich ein Fehler, den G20
in Hamburg zu veranstalten.
Die Ereignisse ziehen sich bis in die Abendstunden. Als die Sonne
untergeht, versammeln sich die Menschen im Schanzenviertel. Es brennt in
den Straßen. Es gibt etliche Verletzte und Verhaftungen. Alles was im
Morgengrauen übrig bleibt, sind der Geruch von Pfefferspray und
Tränengasschwaden.
Es ist der 7. Juli: Tag eins des G20-Gipfels. Während die
Regierungsoberhäupter sich auf dem Messegelände beraten, finden in der
statt diverse Demonstrationen statt. Auf dem Weg zum Stadtzentrum läuft am
Straßenrand ein komplett in türkische Fahnen und Erdogan-Banner
eingehüllter Junge von etwa 17 Jahren. Sein Name ist Yasin. Auf die Frage,
ob eine Pro-Erdoğan-Demo stattfinden wird, antwortet er: „Steht nicht fest,
mal sehen. Wir versuchen uns gerade zu organisieren.“
Ob sie das Redeverbot umgehen werden können? Zeitgleich kommt ein älterer
deutscher Mann mit einem YPG-Shirt die Straße entlang. „Du Hurensohn! Guck
dir diesen Terroristen mal an Abi, verpiss dich, şerefsiz!“, ruft Yasin,
der Schwierigkeiten hat, sich zu beruhigen. Der ältere Mann ist darüber
sichtlich verwirrt. Yasin, der Bescheid geben will, falls es eine Aktion
für den „Reis“ (liebevolle Ansprache der Erdoğan-Befürworter, Anm.d.Red.)
gibt, entfernt sich wieder.
## Keine klassische Musik für den „Reis“
Im Anschluss an den Gipfel nehmen die Regierungsoberhäupter an einem
Empfang der Kanzlerin in der Elbphilharmonie teil. Der Securityleiter fragt
vor dem Gebäude, ob Herr Erdoğan bereits eingetroffen sei. Er arbeitet für
eine Leihfirma, die den Sicherheitsdienst stellt. Der Securitymann
wünschte, er würde sich um die türkische Delegation kümmern können.
„Allerdings wurde ich den Australiern zugeteilt.“ Alle Staatsführer außer
Erdoğan sind auf dem Empfang. Erdogan hatte sein Hotel nicht verlassen, das
blockiert wurde. Das Auto, in dem sich der Sicherheitsdienst des türkischen
Staatspräsidenten befindet, parkt vor dem Hotel.
Die Hotellobby ist voll mit Funktionären der Union Europäisch-Türkischer
Demokraten (UETD) und Geschäftsmännern. Einer der Sicherheitsbeamten sagt,
der „Reis“ sei erschöpft. Erdoğan muss an diesem Tag, an dem er viel und
oft kritisiert wurde, es vorgezogen haben, nicht mit klassischer Musik den
Abend ausklingen zu lassen. Am Sicherheitscheck ein paar Meter weiter,
warten ungefähr sechs Menschen. Einige von Ihnen halten eine türkische
Fahne hoch. Auch wenn sie strenge Blicke in die Gegend werfen, warten sie
doch träge darauf, dass endlich irgendetwas geschieht. Aber der „Reis“ wird
das Hotel heute nicht mehr verlassen.
Genau zu dieser Zeit ist die Schanze, das Herz der Resistance, die Bühne
für weitere Proteste. Viele der von der Polizei verdrängten Demonstrierende
versammeln sich im linken Stadtteil. Auch wenn die Demonstrierenden durch
die Polizeipräsenz angekotzt sind, positionieren sie sich gegen die
Randalierer, die mit Steinen und Flaschen nach der Polizei werfen, da sie
durch diese Aktionen auch sie gefährden. Keiner von ihnen möchte, dass ihr
Kiez zerlegt wird.
Während sich einige damit begnügen, antikapitalistische Sprüche zu klopfen,
legen andere die Gegend in Schutt und Asche. Bankfilialen und Geschäfte
werden in Brand gesetzt und zerstört. Manche kommen mit Laptopkartons in
ihrem Händen vom Raubzug zurück. Eine Mann aus der Türkei, der eine
Sozialistenfahne mit rotem Stern trägt, brüllt ein paar Polizisten an
„Verpisst euch, ihr Hunde von Tayyip.“
## „Eine andere Welt ist möglich“
Das wummernde Geräusch der Helis, die über das Viertel fliegen, ist lauter
denn je, sie strahlen mit ihren Scheinwerfern in den Kiez. Die
Straßenschlachten nehmen an Fahrt auf. Sondereinsatzkommandos mit
Maschinengewehren stürmen das Schanzenviertel. Die Gegend ist für niemanden
mehr sicher.
Es ist der 8. Juli, letzter Tag des Gipfels: Heute findet eine große
Demonstration statt. Der Block der Kurden macht den Auftakt, die Aleviten,
die Juni-Bewegung und Mitglieder der MLKP, kurz: alle von der der Türkei
als terroristische Organisation eingestuften Gruppen befinden sich dort.
Yavuz Feroğlu von der NAV-DEM, erklärt, dass die Demo-Kommission den Kurden
angeboten hatte, die Spitze des Demozuges zu führen. Bezüglich der
Diskussionen um die Verbote von Öcalanbildern und YPG-Symbolen in
Deutschland sagt er: „Wir sind nicht hier, um uns mit der Polizei
anzulegen. Wir demonstrieren gegen eine Politik im Sinne der Herrschenden
und die Ausbeutung von Menschen. Aber dieses Verbot ist falsch. Wir haben
niemandem gesagt, dass er keine Banner mitbringen darf. Wenn die Situation
hier eskaliert, dann ist das nicht unsere Schuld, denn nicht wir haben
damit angefangen. Wir sind hier, um unsere Rechte einzufordern. Eine andere
Welt ist möglich.“
## „Selbst der schlimmste Frieden ist besser als Krieg“
Zehntausende Menschen laufen vom Deichtorplatz Richtung St.Pauli. Die
offizielle Zahl der Teilnehmerinnen ist 76.000. Im vordersten Block, der
aus siebentausend Kurdi*nnen besteht, ertönen Slogans gegen den globalen
Kapitalismus: „Es gibt eine Alternative zu diesem Regime in Rojava. Eine
ökologische Alternative, basierend auf Menschen- und Frauenrechten.“ Songül
aus Bremen läuft im kurdischen Block und trägt ein Erdoğan-Schild, auf dem
„Despot“ steht. „Wir sind hier um für den Frieden einzustehen. Selbst der
schlimmste Frieden ist besser als Krieg.“ Nicht nur im kurdischen Blog
wehen YPG Fahnen.
Auch zahlreiche Angehörige der alevitischen Gemeinden in Deutschland nehmen
teil. Rafet, Mitglied der alevtischen Gemeinde in Hamburg, sagt: „In
unserem Land werden Aleviten diskriminiert und Erdogan kommt hierher um
sein Spiel zu spielen.“ Ali, der eine Marxistisch-Leninistische
Kommunistische Partei (MLKP) Fahne trägt, ist aus Nürnberg angereist:
„Gewaltexzesse, bei denen die Menschen ihre eigenen Viertel zerlegen sind
nicht in Ordnung.“ Auf die Frage, was er dazu sagt, dass die MLKP eine
verbotene Organisation ist erwidert er: Ja, das stimmt. Und Symbole der
PYD, die gegen den IS Kömpfen, sind in Deutschland verboten. Das zeigt, was
für ein freies Land Deutschland ist.“
In den hinteren Reihen wehen die Fahnen der Juni-Bewegung, die sich aus
Gezi entwickelt hat. Oğuz Yilmaz aus Frankfurt schickt dem March der
Gerechtigkeit Grüße und fügt hinzu: Gezi war anders. Jene, die Gewalt
anwenden, illegitimieren die Proteste hier.“ Und warum laufen sie nicht im
kurdischen Block? „Sie haben andere Forderungen, wir sind nicht gegen sie,
haben aber andere Ziele.“, so Yilmaz. Neslihan Celik sagt, die deutschen
würden sie fragen, ob sie gegen Erdogan demonstrieren. „Auch er ist ein
Teil des Problems, aber hier geht es um den Protest gegen das System.“, so
Celik, die Parallelen in der Polizeigewalt sieht, aber die Hoffnung nicht
aufgeben will.
## Autogramme für die Mitarbeiter der Landesmedien
Zu dieser Stunde gibt Erdoğan eine Pressekonferenz. Das BKA hebt die
Akkreditierung für Journalisten linker Medien auf. Erdoğan antworte auf
schwere Fragen mit leichten Antworten. Wann kommen Demirtaş und andere
HDP'ler frei. Sie sind also Terroristen, was ist mit den Menschenrechtlern
auf Büyükada? Auch die sind Terroristen. Ok, und was ist mit Deniz Yücel?
Keine Antwort. Bevor Erdoğan die Stadt verlässt, verteilt Erdoğan
Autogramme an Mitarbeiter seiner eigenen Landesmedien.
Während die Regierungsoberhäupter die Stadt verlassen, wird das
Schanzenviertel ein weiteres Mal Schauplatz von Gewaltausbrüchen. Selbst
Menschen aus antikapitalistischen und linken Blöcken verkünden nun nach und
nach Statements gegen die sinnlose Gewalt. Jene, die in den vergangenen
Tagen die Straßen in Brand gelegt haben, sind weniger diejenigen, die gegen
den G20 protestieren, sondern ihren Frust ablassen wollten. Am Sonntag
machen sich die Hamburger*innen gemeinschaftlich dazu auf, die Straßen von
dem Schutt, den G20 hinterlässt, zu säubern. Während kleine Kinder Scherben
wegfegen, ist es so, als hätte die vergangene Woche nicht stattgefunden.
10 Jul 2017
## AUTOREN
Ali Celikkan
Ali Çelikkan
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