| # taz.de -- Militärdiktatur in Argentinien: Die Tochter eines Völkermörders | |
| > Während der Militärdiktatur beteiligte sich ihr Vater am Kindesraub des | |
| > Regimes. Erika Lederer hat lange gebraucht, um sich von ihm zu befreien. | |
| Bild: Erika Lederer als Dreijährige mit ihrem Vater Ricardo | |
| Buenos Aires taz | „Es war, als würde das Rad zurückgedreht werden,“ sagt | |
| Erika Lederer. Argentiniens Oberstes Gericht hatte entschieden, dass | |
| verurteilten Menschenrechtsverbrechern unter bestimmten Bedingungen | |
| Strafnachlass gewährt werden muss. Am 10. Mai protestierten 500.000 | |
| Menschen in Buenos Aires dagegen. Unter ihnen Erika Lederer. Von den | |
| bestehenden Menschenrechtsgruppen fühle sie sich nicht repräsentiert, sagt | |
| sie. Auf ihrer Facebookseite postete sie als Tochter eines dieser | |
| Völkermörder ihr Unbehagen über den Straferlass. Die Resonanz war groß. | |
| Schnell wurde ein erstes Treffen organisiert. | |
| „Es schmerzte zuzuhören, denn es sind alles traurige Geschichten. Du hörst | |
| sie und denkst, die Perversion kennt keine Grenzen.“ Erika Lederer hat in | |
| ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa Platz genommen, dahinter die mächtige | |
| Bücherwand. Die Fensterläden sind geschlossen. Der Regentag, es ist Winter | |
| auf der Südhalbkugel, soll draußen bleiben. | |
| „Wir sind Söhne und Töchter von Völkermördern. Das muss mit diesen Worten | |
| gesagt werden.“ Erika Lederer, eine Anwältin, ist das wichtig. Sie ringt um | |
| die Präzision der Begriffe und ihrer Bedeutungen. Während der | |
| argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 arbeitete ihr Vater als | |
| Arzt in einer geheimen Entbindungsstation. Mit einem Kopfschuss hatte er | |
| sich später seiner juristischen Verantwortung entzogen. Unter den Militärs | |
| gilt ihr Vater deswegen als Held, denn er hat das Schweigegelübde befolgt. | |
| „Rational kann ich mir sagen, dass ich mit seinen Verbrechen nichts zu tun | |
| habe. Aber ich trage es in mir,“ sagt die Tochter. „Ich war sehr klein, | |
| manchmal weiß ich nicht mehr, was Fantasie und was wirklich war.“ Sie kramt | |
| in alten Fotos. Das Bild mit dem Vater und ihr auf einer Schaukel. Beide | |
| schauen in die Kamera, sie ist drei Jahre alt. | |
| ## Ein geheimer Kreißsaal | |
| Am 27. November 1976 kommt sie in der Provinz Salta zur Welt. Neun Monate | |
| zuvor hatte sich das Militär in Buenos Aires an die Macht geputscht. Die | |
| Familie zieht nach Villa Ballester in die Provinz Buenos Aires. Der Vater, | |
| Ricardo Nicolás Lederer, Militärarzt im Leutnantsrang, arbeitet als | |
| Geburtshelfer im nahen Militärkrankenhaus von Campo de Mayo. Diese | |
| Militärbasis wird als geheimes Gefangenen- und Folterlager genutzt. Im | |
| Krankenhaus wird eine Entbindungsstation eingerichtet. Gefangene Frauen, | |
| die schwanger sind, bringen dort ihre Kinder zu Welt, die ihnen sofort | |
| weggenommen werden. | |
| Jahre später wird die argentinische Justiz feststellen, dass es | |
| systematischen Kindesraub gab. Während viele Mütter spurlos verschwunden | |
| bleiben, suchen die „Großmütter der Plaza de Mayo“ seit vierzig Jahren na… | |
| den Enkeln. In einer Gendatenbank sind die Genproben von Angehörigen | |
| gesammelt. Nach einem DNA-Abgleich werden immer wieder Kinder gefunden, bis | |
| heute 122. Die Großmütter vermuten, dass rund 500 Neugeborene in geheimen | |
| Entbindungsstationen zur Welt kamen und zur Zwangsadoption freigegeben oder | |
| einfach weitergereicht wurden. | |
| Nach dem Ende der Diktatur 1983 eröffnet der Vater eine Praxis. „Als | |
| Geburtshelfer hat er nie wieder gearbeitet.“ Erika geht auf die | |
| Hölters-Schule. Auf Deutsch und Spanisch wird dort unterrichtet, ein | |
| sechsmonatiger Austausch in einer deutschen Familie ist Pflicht. In der | |
| Grundschule hatte sie anfangs noch den Vater verteidigt. „Aber schon | |
| damals, als ich mich so reden hörte, dachte ich, das bin doch nicht ich. | |
| Ich wollte verstehen. Ich wollte, dass mein Alter es mir erklärt. Ich | |
| wollte ihm glauben können.“ | |
| ## Des Vater verteidigt die Folterer | |
| „Mi Viejo“, mein Alter, sagt Erika Lederer und will sich mit diesem | |
| Begriff, der gar nicht so schroff gemeint ist, vom Vater abgrenzen. „Wie | |
| kann man diese Gräueltaten verteidigen? Mein ganzes Leben habe ich mit | |
| meinem Alten gestritten.“ Mit neun Jahren fingen die Dinge an, nicht mehr | |
| zusammenzupassen. Sie kannte den hippokratischen Eid. Er passte nicht mehr | |
| zum Vater. Im Jahr 1985 steht sein Name in der Zeitung. Sie ist neun. In | |
| der linken Página/12 wird Ricardo Lederer heftig dafür kritisiert, dass er | |
| Ramón Camps verteidigt. Der Offizier war während der Diktatur Polizeichef | |
| in der Provinz Buenos Aires und verantwortlich für die dortigen geheimen | |
| Gefangenen- und Folterlager. | |
| Camps war ein Freund des Vaters. Wegen Folter und Mord wird er 1985 zu 25 | |
| Jahren Haft verurteilt. „Damals fragte ich meinen Alten, ob er jemanden | |
| umgebracht hatte.“ Ja, antwortet er, es sei Krieg gewesen. Sie hat | |
| niemanden, mit dem sie reden kann. Kann es auch deswegen nicht, weil sie | |
| dann auch über die Misshandlungen zu Hause hätte reden müssen. Von den | |
| ständigen Streitereien, den Schlägen, die immer nur sie bekommt und nie der | |
| Bruder. Sie schämt sich. Viele Jahre hatte sie abwechselnd Bulimie und | |
| Anorexie. „Ich habe wochenlang nichts gegessen und wenn, musste ich mich | |
| übergeben. Ich schwöre, es war mein Vater, den ich auskotzte.“ | |
| In der Hauptschule ist sie als Autistin abgestempelt. „Mich haben zwei | |
| Dinge gerettet: Philosophie und Sport.“ Sie liest Heidegger. Die | |
| Philosophie eröffnet ihr einen Weg zum Verstehen. „Mir sprengte es | |
| sprichwörtlich den Kopf. Ich lernte auf eine andere Weise, über die Sachen | |
| nachzudenken, die mich betrafen.“ | |
| ## Schwimmen als Freiheit | |
| Der Sport gibt ihr Ausdauer und die Kraft, Schmerz auszuhalten. „Ich fing | |
| an zu laufen und hörte nicht auf. Ein Jahr lang hatte ich keine Fußnägel.“ | |
| Und sie schwimmt, kilometerlange Bahnen, später im offenen Meer. „Als ich | |
| anfing, im Meer zu schwimmen, eröffnete sich mir eine andere Welt. Du | |
| überwindest die Brandung, schwimmst durch die Turbulenzen, und dahinter ist | |
| die ruhige See.“ Für einen Moment schließt sie die Augen. | |
| Sie zieht ein deutsches Kochbuch aus dem Regal, ein Geschenk der | |
| Gastfamilie. „Als ich mit 15 zum Schüleraustausch nach Augsburg fuhr, war | |
| ich überall voller Falten. Arme, Beine, Gesicht, meine ganze Haut, alles | |
| war runzelig.“ Sie streicht mit den Händen über ihren Körper. Sie lebt in | |
| der Gastfamilie und die Falten verschwinden. „Da war mir klar, ich muss mir | |
| meine verrückte Familie vom Leib halten.“ | |
| Nach der Schule studiert sie Jura. Der Vater will es so. Philosophie sei | |
| etwas für linke Spinner. Während des Studiums jobbt sie in seiner Praxis. | |
| Sie wohnt im Elternhaus und spart alles. Nur für Bücher gibt sie Geld aus. | |
| Einmal kommt sie nach Hause. In ihrem Zimmer ist alles auf den Kopf | |
| gestellt. Der Vater hat es durchsucht. Er hat Zeitschriften einer linken | |
| Gruppierung gefunden und tobt. Er schlägt zu, so heftig, dass zum ersten | |
| Mal der Bruder dazwischen geht. „Ich spürte keinen Schmerz mehr“, erinnert | |
| sie sich. | |
| ## Heidegger, Sartre, Wittgenstein | |
| Mit 24 Jahren und dem Titel einer Rechtsanwältin verlässt sie das | |
| Elternhaus. Sie wird es drei Jahre lang nicht betreten. Sie beginnt | |
| Philosophie zu studieren. „Das war eine herrliche Revanche.“ Heidegger, | |
| Sartre, Camus. „Die Existenzialisten, die uns sagen, dass wir auch was ganz | |
| anderes machen können.“ Später verliebt sie sich hoffnungslos in | |
| Wittgenstein. „Sprache, Reden, Sagen – das war immer mein Ding gewesen.“ | |
| Und sie will Mutter werden. „Mein Vater war immer auf der | |
| Entbindungsstation. Babys, Kinder, Mutter sein waren immer Thema.“ Sie | |
| sucht sich jemanden, mit dem das ging. Die Ehe endet mit Scheidung, weil | |
| ihr Mann sie schlägt. Mutter ist sie geworden. Jose Martín, nach Martin | |
| Heidegger, ist heute zwölf, Alba Libertad, nach einer Anarchistin, ist | |
| zehn. Als die Schwester ihr nach der Geburt ihren Sohn zum Waschen abnimmt, | |
| schreit sie, man solle ihr das Baby wiedergeben „Mir ging alles durch den | |
| Kopf, Frauen deren Kinder nach der Geburt gestorben waren, Kinder, die | |
| nicht bei der Mutter blieben, die gestorben sind. Ich habe geheult ohne | |
| Ende.“ Sie blickt zu den zwei großen Bildern der Kinder. | |
| Sie lässt die DNA-Analyse vornehmen. „Ich hatte keine Zweifel, die Tochter | |
| meines Vaters zu sein. Außerdem komme ich sehr nach meiner Mutter.“ Dennoch | |
| hatten die Großmütter der Plaza de Mayo schon lange darum gebeten. Sie | |
| erfährt, dass sich ihr Bruder ebenfalls der Analyse unterzog. „Mein Bruder | |
| kam 1979 in Campo de Mayo zur Welt kam.“ Das hatte das Misstrauen der | |
| Großmütter erregt. | |
| ## Vater erschießt sich | |
| Am 7. August 2012 geben die Großmütter bekannt, dass sie Enkel Nummer 106 | |
| gefunden haben. Der Junge kam am 14. Mai 1978 im Krankenhaus Rivadavia in | |
| Buenos Aires zur Welt und wurde der Mutter weggenommen. Seine Eltern sind | |
| bis heute verschwunden. Die gefälschte Geburtsurkunde wurde von Ricardo | |
| Lederer unterschrieben, datiert auf den 23. Juli 1978. Dem Vater droht zum | |
| ersten Mal die Festnahme. Einen Tag später erschießt er sich. | |
| „Ein Schüler fragte Camus: meine Mutter stirbt, was soll ich tun? Camus | |
| antwortet, als Du mich gefragt hast, hattest Du schon die Antwort.“ Ihre | |
| Augen finden das Buch. Sie zieht „Der Mensch in der Revolte“ aus dem Regal. | |
| „Ich habe einen Freund angerufen, der ist Philosoph. Der sagte, du bist | |
| doch Existenzialistin und dein Vater hat es so gewählt. Du weißt, der Tod | |
| ist die letzte Entscheidung. Der Affekt für den Vater ist eine Sache. | |
| Gerechtigkeit verlangen, ist eine andere.“ | |
| Heute arbeitet sie als Mediatorin in Strafsachen beim Justizministerium. Es | |
| geht um Konfliktlösung durch Kommunikation, mit Worten, zwischen | |
| Gefängnisinsassen und ihren Angehörigen draußen. „Die Gefangenen ähneln u… | |
| Kindern der Völkermörder, sie haben Geschichten, mit denen sie nicht leben | |
| können. Aber wenn du nur das Gefängnis kennst, ist es schwer, da | |
| herauszukommen. Ich bin nicht nur die Tochter eines Militärs, ich habe eine | |
| andere Geschichte aufgebaut“, sagt sie und stellt Camus wieder ins Regal. | |
| 27 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Vogt | |
| ## TAGS | |
| Argentinien | |
| Militärdiktatur | |
| Menschenrechtsverletzungen | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Argentinien | |
| Argentinien | |
| Argentinien | |
| Argentinien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Militärdiktatur in Argentinien: Haftstrafe für frühere Ford-Mitarbeiter | |
| Leitende Mitarbeiter des Autokonzerns müssen in Haft. Sie sollen während | |
| der Diktatur an der Verschleppung kritischer Arbeiter beteiligt gewesen | |
| sein. | |
| Anklage gegen Hebe de Bonafini: Im Alter selbstherrlich | |
| Hebe de Bonafini ist eine prominente argentinische Menschenrechtlerin. Nun | |
| wurde sie wegen eines Bauskandals angeklagt. | |
| Massendemonstration in Argentinien: Keine Milde für Diktaturverbrecher | |
| Der Oberste Gerichtshof hatte einem verurteilten Menschenrechtsverbrecher | |
| Strafnachlass eingeräumt. Dagegen protestierten Hunderttausende. | |
| Argentinischer Kommandant in Haft: Von der Vergangenheit eingeholt | |
| Der ehemalige Oberkommandierende der argentinischen Streitkräfte, César | |
| Milani, kommt endlich in Haft. Zur Zeit der Diktatur hatte er gefoltert. |