# taz.de -- Massendemonstration in Argentinien: Keine Milde für Diktaturverbre… | |
> Der Oberste Gerichtshof hatte einem verurteilten Menschenrechtsverbrecher | |
> Strafnachlass eingeräumt. Dagegen protestierten Hunderttausende. | |
Bild: Protest gegen den Gerichtsentscheid, Buenos Aires 10. Mai 2017 | |
BUENOS AIRES taz | „Señores jueces: Nunca Más. Ningún genocida suelto. – | |
Herren Richter: Nie wieder. Kein frei herumlaufender Völkermörder.“ Mit | |
dieser Forderung protestierten am Mittwochabend hunderttausende Menschen im | |
Zentrum der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. Sie wandten sich gegen | |
ein Urteil des Obersten Gerichthofs, das einem verurteilten | |
Menschenrechtsverbrecher Strafnachlass einräumte. | |
Eine Woche zuvor hatten drei Mitglieder des fünfköpfigen Richtergremiums | |
für die Anwendung des sogenannten Zwei-für-Eins-Gesetzes gestimmt. Zwei der | |
zustimmenden Richter waren 2016 auf Vorschlag von Präsident Mauricio Macri | |
neu eingesetzt worden. Macri wolle die juristische Aufarbeitung der | |
Diktaturverbrechen von 1976 bis 1983 unterlaufen, so der Vorwurf seiner | |
Kritiker. | |
Das als landläufig ‚Dos-por-Uno‘ titulierte Gesetz war von 1994 bis 2001 in | |
Kraft. Wer länger als zwei Jahre ohne rechtskräftiges Urteil in U-Haft saß, | |
dem wurden die ersten beiden Jahre einfach und die Zeitspanne danach bis | |
zur Verurteilung doppelt auf die Haftstrafe angerechnet. | |
„Als ich das Urteil hörte, habe ich geweint,“ sagte Mirtha Ramírez. „Ich | |
gehöre keiner Menschenrechtsgruppe an, aber ich will, dass die Militärs im | |
Gefängnis bleiben und nicht, dass diese Mörder uns auf der Straße | |
begegnen.“ Wie die 56-jährige Hausfrau aus dem Vorort San Miguel waren | |
viele zur Demonstration gekommen. Weniger die riesige Menschenmenge | |
beeindruckte, sondern vor allem ihre politische und soziale Bandbreite. | |
Im Urteil des Obersten Gerichts ging es um den Fall des 61-jährigen Luis | |
Muiña, der einer Stoßtruppe angehörte, die im Hospital Posadas in Buenos | |
Aires agierte. Die Militärs hatten auf dem Krankenhausgelände kurz nach dem | |
Putsch am 24. März 1976 ein geheimes Gefangenen- und Folterlager | |
eingerichtet. Dreißig Mitarbeiter wurden verhaftet, mindestens elf von | |
ihnen sind seitdem verschwunden. Muiña wurde 2011 wegen Entführung und | |
Folter zu einer Haftstrafe von 13 Jahren verurteilt. Zwei Jahre später | |
wurde das Urteil rechtskräftig und die Zwei-für-Eins-Regelung verfügt. Der | |
Oberste Gerichtshof bestätigte in letzter Instanz die Zulässigkeit der | |
Regelung. | |
„Dieses Urteil legte fest, dass gewöhnliche Verbrechen dasselbe sind wie | |
Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, erklärte der Verfassungsrechtler | |
Andrés Gil Domínguez. „Es ist eine neue rechtliche und ideologische Art des | |
Obersten Gerichts, Menschenrechtsverbrechen zu sehen.“ Ähnlich äußerte sich | |
Estela de Carlotto, Vorsitzende der Organisation Abuelas de Plaza de Mayo. | |
„Welche Art von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Teil einer vom | |
Staat gestützten Terrorkampagne sind, kann mit gewöhnlichen Verbrechen | |
gleichgesetzt werden?“, fragte sie. | |
## Gesetz in Windeseile | |
Wie sehr die Regierung bemüht war die Wogen zu glätten, zeigt das Gesetz, | |
auf das sie sich mit der Opposition in Windeseile einigte und das noch kurz | |
vor der Demonstration im Kongress verabschiedet wurde. Demnach ist die | |
Regelung „nicht anwendbar bei Menschenrechtsverbrechen, Völkermord und | |
Kriegsverbrechen“ und „kann nur bei solchen Fällen angewendet werden, bei | |
denen der Verurteilte während der Gültigkeit des Gesetzes in | |
Untersuchungshaft war“. Dies sei auf alle laufenden Verfahren anzuwenden. | |
Auf der Plaza de Mayo wurde jedoch Wachsamkeit auf die Fahnen geschrieben. | |
„Wenn das Urteil ein Versuchsballon war, dann ist er diesmal wie eine | |
Seifenblase geplatzt. Aber wir müssen aufpassen, ob Regierung und Justiz | |
nicht noch weitere aufsteigen lassen,“ warnte Mirtha Ramírez. | |
11 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Vogt | |
## TAGS | |
Argentinien | |
Militärdiktatur | |
Demonstrationen | |
Gericht | |
Argentinien | |
taz.gazete | |
Mauricio Macri | |
Papst Franziskus | |
Argentinien | |
Argentinien | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Militärdiktatur in Argentinien: Die Tochter eines Völkermörders | |
Während der Militärdiktatur beteiligte sich ihr Vater am Kindesraub des | |
Regimes. Erika Lederer hat lange gebraucht, um sich von ihm zu befreien. | |
Umstrittener argentinischer Politiker: Ein Amigo wird entsorgt | |
Argentiniens Präsident Macri schickt den umstrittenen Kultursekretär Darío | |
Lopérfido nach Berlin. Dagegen regt sich nun Widerstand. | |
Politologe über Argentiniens Präsidenten: „Trump ist für ihn ein Problem“ | |
Der US-Präsident ist ein alter Geschäftsfreund Mauricio Macris, | |
wirtschaftspolitisch eint sie jedoch wenig. Zur Führungsfigur taugt Macri | |
nicht, sagt Alejandro Frenkel. | |
Einfluss des Papstes in Argentinien: Opposition aus dem Vatikan | |
Gewerkschaften und NGOs in Argentinien machen gegen Präsident Macri mobil. | |
Einen wichtigen Verbündeten haben sie in Papst Franziskus. | |
Generalstreik gegen Wirtschaftspolitik: Stillstand in Argentinien | |
Der Frust in der Gesellschaft hat sich in den vergangenen Monaten | |
angestaut. Am Donnerstag gipfelte er in einem eintägigen Generalstreik. | |
Aus Le Monde diplomatique: Der Superstratege von Buenos Aires | |
Jaime Durán Barba gilt als graue Eminenz der Rechten in Südamerika. Er | |
brachte Macri an die Macht und sieht Utopien als Zeitverschwendung an. |