| # taz.de -- Vinyl boomt wieder: Es dreht sich | |
| > Max Gössler und Alex Terboven hatten einen Traum: ein eigenes | |
| > Vinylpresswerk in Berlin. Sie kündigten ihre guten Jobs, wagten es – und | |
| > gewinnen gerade. | |
| Bild: Max Gössler (links) und Alex Terboven mit Pressen und Extruder in ihrer … | |
| Berlin taz | Vom Berliner Ortsteil Marienfelde lässt sich nicht gerade | |
| behaupten, dass dort im Jahr 2017 die Dinge passieren. Eher wirkt die | |
| Gegend im Süden der Stadt ein bisschen vintage. Gaststätten heißen hier | |
| „Landhaus Alt-Mariendorf“ oder „Alte Dorfschänke“; das Adjektiv „Alt… | |
| in Mariendorf in. | |
| Es passt also, wenn man nun im Hinterhof eines Klinkerbautenareals auf zwei | |
| Menschen trifft, die ihr Leben einem Medium mit Retrocharme widmen. Alex | |
| Terboven und Max Gössler, bislang hobbymäßig Musiker, DJs und | |
| Labelbetreiber, öffnen die Tür zu einer kleinen Fabrikhalle. Hier haben die | |
| beiden jungen Männer, 31 und 34 Jahre alt, vor ein paar Wochen ein neues | |
| Presswerk für Schallplatten eröffnet. Eine der ersten Neueröffnungen seit | |
| der Renaissance des Vinyls, die Deutschland in den vergangenen Jahren | |
| erlebt. Und im Moment das einzige Presswerk Berlins. Es heißt „intakt!“. | |
| Max Gössler hat eben noch mit einem Kunden gesprochen, jetzt steht er neben | |
| einem Gerätewagen. Ein paar frisch gepresste schwarze Scheiben liegen | |
| darauf, sie müssen abkühlen. „Die Nachfrage nach Vinylpressungen ist | |
| zuletzt enorm gestiegen“, sagt Gössler. „Die Labels mussten oft wochenlang | |
| warten, bis sie einen Termin im Presswerk bekamen. Vor allem die kleinen | |
| Firmen hatten darunter zu leiden. Deshalb wollen wir nun auch hauptsächlich | |
| für Independent-Labels pressen.“ | |
| Ein paar Zahlen erklären den Engpass: Vor zehn Jahren wurden in Deutschland | |
| gerade noch 400.000 Schallplatten verkauft. Umsatz pro Jahr: 8 bis 9 | |
| Millionen Euro. Der Tod der schwarzen Scheibe schien nur noch eine Frage | |
| der Zeit. Aber dann ging’s bergauf, im vergangenen Jahr wurden schon wieder | |
| 3,1 Millionen Exemplare verkauft. Umsatz: 70 Millionen Euro. Steigerung | |
| im Vergleich zum Vorjahr: gut 40 Prozent. | |
| ## Warmes Knistern, leises Knacken | |
| Vinyl boomt weiter. Die Gründe: Nostalgie, Leidenschaft, Sammlertum. Die | |
| Schallplatte ist das Medium, mit dem Rock und Pop groß wurden, und viele | |
| Musikfans lieben bis heute das Ritual des Plattenauflegens: Warmes | |
| Knistern. Leises Knacken. Kaum wahrnehmbares Rauschen der Nadel, wenn sie | |
| durch die Rille gleitet. Ausgerechnet die Störgeräusche der Nadel sind in | |
| der Ära der digitalen Musikproduktion mit die meistgesampelten Tracks | |
| überhaupt. | |
| Die Liebe zum Medium, zur Musik war es, die Max Gössler in diese sterile | |
| Fabrikhalle in Randberlin gebracht hat. „Es steckt viel Herzblut hier in | |
| dem ganzen Ding“, sagt er. Gössler hat als Produzent schon zwei EPs | |
| veröffentlicht. Er trägt ein rotes Baseball-Cap, Sneakers, kurze Hosen. Die | |
| Fabrikhalle haben Gössler und sein Geschäftspartner Alex Terboven mit | |
| eigenen Händen gestrichen: rot, gelb und grau. In einer beleuchteten Ecke | |
| stehen drei nigelnagelneue Maschinen. Glänzender Stahl, blaue | |
| Kunststoffverkleidungen. Es sind zwei Pressen und ein Extruder, eine Art | |
| Schmelze für Vinylgranulat. Drum herum: Schläuche, Hydraulik. Ein paar | |
| folienummantelte Paletten mit dem Rohstoff PVC-Granulat stehen auch noch | |
| herum. | |
| Alex Terboven erklärt: „Ungefähr 25 Sekunden dauert es, bis aus einem | |
| schwarzen Gummiklumpen eine Schallplatte wird.“ Terboven und Gössler | |
| stammen beide aus Hamburg, man hört es ihrer Sprache an. Terboven gibt | |
| einen Crashkurs zur Plattenherstellung. Er greift ein Häufchen Granulat – | |
| es sieht aus wie Rollsplitt aus Gummi – und schüttet es in den Extruder. | |
| Darin wird es heiß, und heraus kommt eine Scheibe wie ein Eishockeypuck. | |
| Terboven legt den Rohling auf eine kleine Waage: „152 Gramm. Okay.“ | |
| ## Wie ein Waffeleisen | |
| Der Puck kommt nun in die Presse. Die funktioniert wie ein Waffeleisen, bei | |
| 180 Grad Temperatur brennt eine Matrize die Rillen in das Plastik. Es macht | |
| ein paarmal „klack“, Sekunden später sieht der Puck schon fast aus wie eine | |
| Platte. Wie bei einer Waffel wird nun der Rand abgeschnitten. Die Platte | |
| ist noch warm, aber man riecht nichts. Terboven fasst sie mit | |
| Spezialhandschuhen an, er wirft einen fachmännischen Blick auf die Rillen, | |
| legt die Scheibe dann zwischen zwei Kühlplatten. | |
| 30.000 Schallplatten wollen die beiden Jungunternehmer pro Monat pressen. | |
| Dafür haben sie alles hingeschmissen, haben bei null angefangen. Max | |
| Gössler war bis vor einem Jahr noch Unternehmensberater, Terboven | |
| angestellter Maschinenbauer. Aber den Traum vom eigenen Presswerk träumten | |
| beide schon eine ganze Weile. Sie hatten das Problem der knappen Platten | |
| selbst erlebt. Max Gössler betreibt mit seinem Bruder das Label Somedate | |
| Records. Die ganze Clique gruppiert sich um die Plattenfirma und eine | |
| Konzertreihe gleichen Namens. | |
| Die Idee vom eigenen Presswerk gedieh und reifte schließlich, Gössler und | |
| Terboven machten sich an den Businessplan. Sie rechneten hin und her. | |
| 500.000 Euro brauchten sie, mehr als die Hälfte kam über einen Bankkredit | |
| rein. | |
| ## Gestalten statt verwalten | |
| Keine Angst vor der Selbstständigkeit, vor Scheitern, vor Bankrott? | |
| Terboven: „Angst würde ich nicht sagen.“ Er ist Pragmatiker, norddeutsch | |
| trocken. „Natürlich war es ein angenehmes Gefühl, jeden Monat ein reguläres | |
| Gehalt zu beziehen. Aber das ist nicht alles. Als Maschinenbauer war ich am | |
| Ende zwar bei hundert Prozent Gehalt, aber bei null Prozent Spaß. Gerade | |
| ist es umgekehrt. Und ich liebe es.“ Nun gestaltet er, statt nur zu | |
| verwalten. | |
| „In der Selbstständigkeit hat man selbst Einfluss darauf, welche | |
| Entwicklung der Betrieb nimmt. Man kann Fehler korrigieren und Dinge zum | |
| Besseren verändern.“ Freunde und Familie gaben Rückendeckung, und einen | |
| ordentlichen Vertrauensvorschuss: „Sie federn das finanzielle Risiko zwar | |
| nicht völlig ab, aber sie geben einem ein gutes Gefühl.“ | |
| Der Markt in Deutschland macht beiden Hoffnung. Die gesamte Plattenbranche | |
| wirkt wie wiederbelebt. Auch Plattenspieler verkaufen sich wieder besser: | |
| 106.000 waren es 2016, 33 Prozent mehr als im Vorjahr. Und in Alsdorf bei | |
| Aachen stellt ein Fünfmannbetrieb namens Newbilt Machinery neue | |
| Vinylpressen her. Einer ihrer ersten Kunden war übrigens Jack White, der | |
| Kopf der Band White Stripes und Gründer des Labels Third Man Records. Er | |
| hat jüngst in Detroit ein neues Presswerk eröffnet. Und auch Max Gössler | |
| und Alex Terboven haben ihre beiden Pressen für Berlin-Marienfelde von | |
| Newbilt Machinery gekauft. | |
| ## Lange Wartezeiten | |
| Die Plattenlabels freuen sich über mehr Vinyl. Thomas Morr, Chef von Morr | |
| Music in Berlin, erzählt: „Wir mussten zuletzt oft sechs bis acht Wochen | |
| warten, bis wir eine Testpressung bekamen, und dann noch mal so lange, bis | |
| man das fertige Produkt in der Hand hält.“ Produktionsverspätungen wurden | |
| zur Regel, die Folge: Plattenfirmen können ihre angekündigten | |
| Veröffentlichungstermine nicht mehr halten. Indie-Chefs klagen, dass die | |
| großen, zahlungskräftigen Labels privilegierten Pressenzugang bekämen. Für | |
| die kleinen bedeutet das: Sie können kaum noch planen. | |
| Merkt auch Thomas Morr etwas vom Vinyl-Hype? Mmh. Zwar hat der Verkauf in | |
| seinem Onlineshop angezogen, aber der Verkauf der Eigenveröffentlichungen | |
| auf Vinyl bleibt fast gleich. Morr hat Zweifel an der Renaissance des | |
| Vinyls. Dieser Markt wachse vor allem, weil Re-Releases von Popklassikern | |
| den Markt überschwemmten. Da könnte etwas dran sein, Bestseller-Vinylalben | |
| im popbegeisterten Großbritannien zum Beispiel sind: die Beatles, die | |
| Smiths, Fleetwood Mac, Nirvana und David Bowie. | |
| Vinylfans argumentieren gern, dass wir allein der Platte unser | |
| Musikwelterbe anvertrauen dürfen. Ein Soundästhet wie der Musiker Neil | |
| Young rebelliert gegen die Digitalspeicherung per MP3-Format. Der Musiker | |
| und Autor Jace Clayton alias DJ Rupture nennt Digitalformate in seinem Werk | |
| zur Musik im Internetzeitalter „fluide Medien“. Allein die physische | |
| Klangüberlieferung auf Platten erlaube der Musik, sie selbst zu bleiben. | |
| ## Hundert Jahre Swingen | |
| „Hundert Jahre alte Schellackscheiben können immer noch den Soul und den | |
| Swing der Musiker in sich tragen“, schreibt er. Das digitale Zeitalter | |
| dagegen wolle die Vervielfältigung des Datenbündels, fluide Codes, die in | |
| möglichst viele andere Formate überführbar sind. Für Clayton das Gegenteil | |
| von Musik, die sie selbst bleiben darf, und von toten Musikern, die | |
| weiterswingen. | |
| Der Berliner Plattenpresser Alex Terboven schätzt einfach die Robustheit | |
| und Haptik der Scheiben. Er erinnert sich genau an den allerersten Schwung | |
| Schallplatten aus eigener Produktion: „Es ist ein tolles Gefühl, die | |
| fertigen LPs dann piekfein und sorgfältig in die Kartons zu packen. Und ein | |
| noch besseres, wenn der Kunde die Platten dann mit einem Lächeln | |
| entgegennimmt.“ | |
| In Marienfelde sind sie inzwischen bei Pressauftrag Nummer sechs. Die | |
| nächsten 30 Pressungen sind schon gebucht, meist Auflagen von 300 bis 500 | |
| Stück. In Terbovens und Gösslers Fabrikhalle gehen befreundete | |
| Labelmacher ein und aus. Aus aller Welt kommen die Anfragen von | |
| Plattenfirmen. Gössler hat das nicht überrascht. „Das Produkt, das wir | |
| herstellen, ist sexy und romantisch“, sagt er. Für ihn und viele andere ist | |
| es einfach: eine große Leidenschaft. | |
| 22 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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