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# taz.de -- Moers Festival unter neuer Leitung: Ein Wunder nahe Duisburg
> Experimentalkonzerte statt Wohlfühlklang: Die erste Festival-Ausgabe, die
> Tom Isfort zu verantworten hat, vereint Musik aller Aggregatzustände.
Bild: Gier nach musikalischer Intensität: Sänger Strombo von Radio Kinshasa
Jede Musik hat andere Aggregatzustände. Jazz etwa ist vergleichbar mit
Plasma, enthält also sowohl geladene als auch neutrale Teilchen. Um zu
improvisieren, benötigt man mit vorgefertigten Codes geladene Klänge und
neue, spontan erschaffene Sounds.
Die sieben MusikerInnen, die am Sonntagabend in der vollen Festivalhalle
auf dem Moers Festival spielen, haben genau das mitgebracht. Zunächst wirkt
es, als hätten sie wenig gemeinsam, die vier kongolesischen MusikerInnen in
retrofuturistischer Kleidung, der nervöse Trompeter mit Hut, der schlaksige
Deutsche, der eine überdimensionierte Metallfeder mit einer Bohrmaschine
küsst, und der nur mit Unterhose bekleidete Saxofonist aus Weißrussland.
Bald wird klar, was sie verbindet: Ihre Leidenschaft für ästhetische
Brüche, eine Gier nach musikalischer Intensität und die unendliche Suche
nach neuen Klängen.
Das Septett besteht aus der virtuosen Percussionistin Huguette Huguembo und
ihren rhythmischen Counterparts Nego Angela Chadrrac und Justin Kabangu,
dem Sänger und Performer Strombo, Pavel Arakelian am Saxofon, Markus Türk
an der Trompete und dem Klangkünstler FM Einheit, der neben der Metallfeder
eine Blechplatte mitgebracht hat, auf der er mit beiden Händen im Zement
wühlt, um ihr ein schönes Analog-Rauschen zu entlocken.
## Instrumente aus Müll
Dass Radio Kinshasa auftreten konnte, ist nicht selbstverständlich, wie Tim
Isfort, der neue Festivalleiter, kurz vor dem Gig erzählt. Ginge es nach
den Behörden, hätten die Musiker aus Kongo, deren Instrumente
ausschließlich aus Plastikmüll bestehen, kein Visum erhalten. Es ist nur
eines von vielen kritischen Statements in Richtung politisches
Establishment. Am Abend zuvor sagte Isfort, dass es angesichts der
Anschläge von Paris wichtiger denn je sei, einen friedlichen Raum für
Kultur zu schaffen – und damit eine bessere Welt.
An den vier Tagen ist sie entstanden, jene bessere, wenn auch steinige
Welt. Jazz ist seit der Festivalgründung 1972 keine Bezeichnung für einen
Musikstil, sondern ein Lebensgefühl – die Bereitschaft, sich einer Sache
ohne Vorurteile zu widmen, mit dem Unerwarteten umzugehen, Fremdes mit
offenen Armen zu begrüßen und vor allem: feste Strukturen skeptisch zu
betrachten.
Moers ist seit jeher ein ästhetisches Bollwerk gegen konfektionierte
Wohlfühlmusik – sei es Black Metal und Punk. Statt mit Begriffen lässt sich
die Musik besser anhand ihres Effekts auf den Körper unterscheiden. Ein
Mann, der aussieht, als habe er gerade noch seinen Rasen gemäht, reckt bei
der US-Band Swans, die sich am Samstagabend in einen Rausch aus
Tinnitus-förderndem Feedback spielt, beide Fäuste in die Luft. Die Wall of
Sound bringt vor allem den Halsbereich und den Magen in Wallung.
## Erwartungen zerlegen, keine Töne
Beim US-Free-Jazz-Saxofonisten Anthony Braxton treffen die Klangkaskaden
eher auf den Schulter- und Kopfbereich, bei der belgischen Band Cocaine
Piss vibriert dann alles. Musikalisch hat Braxtons ZIM Sextett mit zwei
Bläsern, zwei Harfenistinnen und einer Cellistin die Kunst der Mikrotöne
perfektioniert. Wie Maschinen zerlegen sie einzelne Töne in Bestandteile
und zeigen, dass in jedem einzelnen Ton noch tausend andere versteckt sind.
Viele Töne, aber ein Dröhnen, produzieren die Belgier mit dem schön
hirnrissigen Namen. Die Crust-Punk-Band aus Liège zerlegt weniger Töne als
Erwartungen.
Ihr Geknüppel wird von der durch das Publikum wandelnden Sängerin mit
Schreien konterkariert – und von der norwegischen Freejazz-Saxofonistin
Mette Rasmussen ergänzt. Sie fügt mit berserkergleichen Schiffshorn-Salven
eine weitere Dimension dissonanter Verrücktheit hinzu. Heads werden
gebangt, Körper gedreht, Gesichter verzogen. Dass die meisten bleiben und
zuhören, ist in Moers selbstverständlich, genauso wie die respektvolle
Stille bei allen Konzerten.
## Lästern über Batikhemden
Tim Isforts Aufgabe war schwierig, gerade nachdem das Festival zuletzt
aufgrund finanzieller Engpässe vor dem Aus stand und Reiner Michalke
aufgehört hatte. Als Jazz-Bassist weiß er zu improvisieren – und geht mit
einem offenen Konzept auf die BürgerInnen von Moers zu. So gab es erstmals
27 Locations, die in der Stadt verteilt sind.
Die vielen Neuerungen gefallen nicht allen. Manche Zuschauer sind genervt
von Bühnen mit begrenzten Plätzen. Doch die Evakuierung von 80.000 Menschen
bei Rock am Ring sollte eigentlich jede Kritik nichtig machen. Kultur heißt
hier nicht nur, schwierige Musik in kleinen Zirkeln zu hören, sondern auch,
fettiges Fast Food zu essen und über Batikhemden tragende Konzertbesucher
zu lästern. Kultur ist, wie dieses kleine Wunder nahe Duisburg zeigt, ein
gemeinsamer Raum, der für alle zugänglich ist. Und mit dem, was da ist, zu
improvisieren. Wie im Jazz.
6 Jun 2017
## AUTOREN
Philipp Rhensius
## TAGS
Jazz
Musikfestival
New York
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