# taz.de -- Moers Festival: Fragen statt Antworten | |
> Entdeckungen aus allen Musikkulturen der Welt. Das Moers Festival gewinnt | |
> die Zuneigung seines Publikums. | |
Bild: Mikko Innanen auf der Moers Fstival. | |
Soeben hat Dean Blunt am Flügel Platz genommen und sich eine Zigarette | |
angezündet, sein Bodyguard, ein Man of Colour, Position bezogen, ebenso wie | |
die Cellistin, der Schlagzeuger, Bassist und der Tenorsaxofonist, da ertönt | |
eine mechanische Stimme laut von allen Seiten in der Moerser Festivalhalle: | |
„Wegen einer Betriebsstörung schließen wir in wenigen Minuten das Gebäude. | |
Bitte befolgen Sie die Anweisungen unserer Mitarbeiter und verlassen sie | |
auf dem kürzesten Weg das Gebäude.“ | |
Es dauert einige Sekunden bevor dem zu nächtlicher Stunde noch immer | |
musikhungrigen Publikum klar wird, dass diese Anweisung nicht Teil der | |
Performance ist. Das grelle Saallicht geht an, die Musiker verlassen die | |
Bühne und die Evakuierung nimmt ihren Lauf. | |
Bei der zuvor am vergangenen Sonntagabend mit Spannung erwarteten | |
Interpretation der 3. Sinfonie des polnischen Komponisten Henryk Górecki | |
durch den Multiinstrumentalisten Colin Stetson im Verbund mit einem, seinen | |
Klangvorstellungen entsprechenden Ensemble, läuteten nur die inneren | |
Alarmglocken. Verstärkung und Effekte schienen sämtliche Zwischentöne der | |
Streicher und Klarinetten zu besiegeln und den so bei Górecki | |
instrumentierten Klagegesängen in Endlosschleife ihre Sinnlichkeit zu | |
nehmen. Diese Aufführung, von Pathos und Kitsch überfrachtet, war | |
augenscheinlich das erste Musical auf der Bühne der Festivalhalle. | |
Seit 2014 ist sie die feste Heimstatt des für seine abenteuerlustige | |
[1][Programmgestaltung international hoch angesehenen Moers Festival]. Am | |
vergangenen Freitag und den drei Pfingstfeiertagen wartete die Halle mit | |
noch besserer Akustik und erstmals mit der künstlerischen Lichtgestaltung | |
der Engländerin Cate Carter auf. Colin Stetson präsentierte als Artist in | |
Residence der 44. Festivalausgabe an allen vier Abenden verschiedene | |
Projekte. Seinem Duo mit der Geigerin Sarah Neufeld folgte eine lautstarke | |
Jagd an der Seite des Bassisten Trevor Dunn und des Schlagzeugers Greg Fox. | |
## Kaum fassbare Zirkularatmung | |
Am Montagabend blies Stetson in seiner Soloperformance auf Alt-, Tenor- und | |
Basssaxofon jeglichen entstandenen Zweifel an seinem Wirken buchstäblich in | |
den Wind. Seine Zirkularatmung ist kaum fassbar, durch eine Fülle simultan | |
gespielter Töne, Rhythmen und Geräusche beschwört er die Musik aus tiefen | |
Gesteinsformationen herauf und infiltriert diesen Mehrklang mit stimmlich | |
artikuliertem Sirenengesang. Stetson nährt die Imagination einer menschlich | |
erzeugten Geofonie: die Bewegungen im Erdinneren müssen sich einfach so | |
anhören wie seine Minimal-Brachial-Musik. | |
Den Gesteinsformationen des Bryce Canyon in Utah/USA sind die Kompositionen | |
abgelauscht, welche die französische Pianistin Eve Risser mit ihrem White | |
Desert Orchestra zu atemberaubendem Eigenleben erweckt. Die Besetzung mit | |
Trompete, Flügelhorn, Flöte, Fagott, Posaune, Klarinetten und Saxofonen | |
plus Rhythmusgruppe kreiert eine musikalisch transzendierte Gegenwelt voll | |
irisierender Wesen und vollkommen unvorhersehbarer Ereignisse. | |
Wie selbstverständlich die MusikerInnen dabei interagieren und die Tönungen | |
der Blech- und Holzbläser zugunsten der gemeinsamen Schwingung in mitunter | |
kühnen Zeitverschiebungen irrlichtern lassen, ist eine bis dato ungehörte | |
Offenbarung. Als sich im Auditorium unversehens dutzende Menschen mit | |
Zischlauten erheben, durch die Sitzreihen wandern und schließlich, als | |
großer Chor vereint, vor der Band auf der Bühne singen, ist die Utopie von | |
mehr Frauenpräsenz im Jazz für Augenblicke eingelöst. Am Ende des Konzerts | |
erhebt sich das Publikum jubelnd zum Applaus. | |
## Trompetenhöllenritt | |
An der Spitze seines Trios Pulverize the Sound blies Peter Evans auf der | |
Trompete zum Höllenritt. Von unten hämmert Schlagzeuger Max Jaffe gegen die | |
Sitzfläche, der E-Bass Tim Dahls durchpflügt die Magengrube und | |
Extremzirkularatmer Evans spuckt Tonkaskaden durchs Mundstück und | |
attackiert das Mikrofon mit dem Schalltrichter. Der infernalische Lärm | |
wirkt kathartisch, eine druckvolle Basswelle bleibt zurück, nachdem die | |
Musiker von der Bühne abgetreten sind – eine machtvolle Geste der | |
Verweigerung festgefahrener Konzertrituale. | |
Dean Blunt stellt diese schlussendlich zur Disposition. Das nach erfolgter | |
Sicherheitsprüfung wieder in die Halle eingelassene Publikum erahnt die | |
Schatten der Musiker auf der in Dunkelheit getauchten Bühne. Blunt spielt | |
ein schmerzlich einsames Motiv und singt wenige Zeilen von kristallklarer | |
Düsternis. Auf seine Worte „Free Jazz“ hin verfallen Bass, Schlagzeug, | |
Tenorsaxofon und Cello in ekstatische Eruptionen. | |
Der Wechsel von Blunts Melodie mit diesem allseits bekannten | |
Performanceritual enthüllt Produktions- und Wahrnehmungsmuster des Jazz in | |
einer fast okkult anmutenden Zeremonie. Die hiermit produktiv ausagierte | |
Dekonstruktion hinterlässt eine Melancholie, deren Schleier sich weiterhin | |
über viele Konzerterlebnisse legen wird. | |
Denn welche Bedeutung messen wir der Darstellung, den Muskelspielen, | |
Hierarchien und deren Fortschreibung in dieser Musik, bei Lichte besehen, | |
wirklich zu? Die herausragende Eigenheit des Festivals ist, dass es mehr | |
Fragen aufwirft als beantwortet. | |
Für seine Entdeckungen, Reibungsflächen und das gebotene Spektrum von | |
Musikkulturen der Welt über eigens initiierte Projekte bis hin zu solchen | |
mit offenem Ausgang, für die selbstverständliche Präsentation von | |
Musikerinnen, Bandleiterinnen und Komponistinnen wird es von seinem | |
Publikum wahrhaftig geliebt. | |
26 May 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.moers-festival.de/ | |
## AUTOREN | |
Franziska Buhre | |
## TAGS | |
Musikfestival | |
Jazz | |
Dean Blunt | |
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