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# taz.de -- Kunst in Briefen: Wenn der Brief zum Konzept wird
> Das Sprengel-Museum in Hannover nähert sich mit der Ausstellung „Zwischen
> den Zeilen“ einer intimen Form der künstlerischen Arbeit – dem
> geschriebenen Wort.
Bild: James Lee Byars: „The Perfect Love Letter is I Write I Love You Backwar…
Hannover taz | Eine experimentelle Tagung der Braunschweiger
Kunsthochschule befasste sich kürzlich mit dem geschriebenen und dem
gesprochenen Wort in der bildenden wie postdramatisch darstellenden Kunst
der Gegenwart. Auch der Topos der Malerei als „stumme Dichtung“ wurde dort
natürlich bemüht oder Walter Benjamins Sentenz, dass die Rede, also das
gesprochene Wort, den Gedanken „erobert“, während die Schrift ihn
„beherrscht“.
Eine besondere und teilweise auch sehr intime Form der künstlerischen
Arbeit mit dem geschriebenen kommunizierten Wort oder auch der Grafik der
Buchstaben zeigt derzeit das Sprengel-Museum Hannover. Die Ausstellung
heißt „Zwischen den Zeilen – Kunst in Briefen von Niki de Saint Phalle bis
Joseph Beuys“.
Wer aber nun befürchtet, mit gut geputzter Lesebrille kleinsten Formaten
nachspüren zu müssen, dem sei diese Sorge hier genommen: Es erwarten einen
in den rund 65 Briefen und Postkarten von 17 KünstlerInnen seit den
1960er-Jahren durchaus auch veritable druckgrafische und installative
Dimensionen. Nur am Rande will diese Ausstellung also dem in Zeiten
digitaler Kommunikationstechniken zunehmend antiquiert erscheinenden
zentralen Medium früherer Fernkommunikation, dem handschriftlichen Brief,
eine Reverenz erweisen.
## Brief als Konzept
Vielmehr geht es in der Ausstellung um ein Zusammenspiel visueller Aussagen
mit semantischen Botschaften und den Buchstaben, die erst in der
sinngebenden Kombination ein Ding oder einen Sachverhalt repräsentieren.
Kurzum: Gezeigt werden komplexe künstlerische Handschriften, die sich an
einen tatsächlichen oder fiktiven Adressaten wenden, der Brief wird
Konzept.
Aus den eigenen Beständen steuert das Haus ein Konvolut aus rund 25
Zeichnungen und Drucken von Niki de Saint Phalle bei. Die Künstlerin
vermachte dem Sprengel-Museum Hannover zwei Jahre vor ihrem Tod im Jahr
2002 rund 450 ihrer Werke. Und diese großen Bögen sind in der aktuellen
Ausstellung die vielleicht anrührendsten, weil persönlichsten Stücke.
## Enttäuschte Liebe
Niki de Saint Phalle verarbeitet in ihnen etwa ihre Enttäuschungen durch
viele Trennungen von Liebhabern oder ihrem Ehemann wie künstlerischem
Weggefährten Jean Tinguely. 1994 bringt sie es, adressiert an ihr Tagebuch,
auf den Punkt: Immer habe sie Männer gewählt, die meist bewundernswert
waren, aber alle waren „womanizer“. Sie haben ihr Vertrauen missbraucht wie
schon ihr eigener Vater, und der Hass habe lange Jahre ihre Kunst gespeist.
Ihre schmerzhaften autobiografischen Reflexionen umrankt Niki de Saint
Phalle jedoch mit optimistisch bunten Porträts. Sie zeichnet ihre
Nana-Figuren und symbolische Darstellungen wie Drache, Schlange oder
Schädel, Baum und Sonne, Liebespaare und Herzen. Diese nur auf den ersten
Blick spontan anmutenden eruptiven Gefühlsregungen sind natürlich
sorgfältig konzipierte Grafiken.
Niki de Saint Phalle verwebt Text und assoziative Illustrationen zu
originellen, künstlerisch autonomen Werken, die auch gesellschaftliche
Tabus antasten. Neben der weiblichen Verletzlichkeit in patriarchalen
Gesellschaftsstrukturen ist es etwa die neokonservative Partnertreue der
1980er-Jahre, als Aids noch als homosexueller Krebs umschrieben wurde und
medizinisch unbeherrschbar erschien. Oder aus feministisch kämpferischer
Sicht ist es das Thema Schwangerschaftsabbruch sowie das heftig umstrittene
Medikament RU 486, die sogenannte Abtreibungspille. Nicht ohne Grund sah
der französische Kritiker und Künstler Pierre Restany in Niki de Saint
Phalle eine Wiedergängerinnen von Jeanne d’ Arc und Marie-Antoinette.
Um eine Trennung scheint es auch bei der Französin Sophie Calle zu gehen.
Ihre Beziehung wurde 2004 per E-Mail aufgekündigt, die mit den Worten „Pass
auf Dich auf“ schloss. Aber was mag das bedeuten? Calle ging die Sache
systematisch an und bat 107 Frauen um eine Analyse gemäß den Standards
ihrer jeweiligen Profession. Die Psychologin ergründet also die seelische
Konstitution des Mannes, die Schriftstellerin seinen Schreibstil, die
Juristin seine vertragsrechtliche Situation, die Kriminologin will ihn
dingfest machen.
Und Calle transkribiert den Text in so absurde Formen wie einen
Hexadezimalcode, also in ein Zahlensystem der Informatik, in Braille und
Stenografie. Sie lässt ihn zu übergroßen, vollkommen unpraktikablen
Formaten anwachsen. Nicht nur diese bloße Größe nährt den Verdacht, dass es
die E-Mail wohl nie gegeben hat. Die vermeintliche Authentizität einer
textlichen Kommunikation war für die Konzeptkünstlerin der fiktionale
Anlass zu einer multimedialen Gesamtinstallation, 2007 im französischen
Pavillon der 52. Biennale von Venedig inszeniert.
## Verhinderte Lektüre
Der Spanierin Elena del Rivero wiederum geht es nicht mehr um die
Lesbarkeit ihrer Briefe an die Mutter. Der Inhalt beschränkt sich ohnehin
auf das blockhaft in die Reiseschreibmaschine gehämmerte „No“. Die leicht
variierenden Blätter ihrer Serie werden mit Handstichen zu wiederum großen
Formaten vernäht, die eine Lektüre verhindern. Elena del Rivero will so die
Unmöglichkeit der Kommunikation darstellen – zumindest exemplarisch
zwischen Mutter und Tochter.
Handelsübliche Postformate steuern Dieter Roth und Joseph Beuys bei. Roth
überzieht etwa eine bunte Ansichtskarte aus Reykjavik mit Schokolade, Farbe
und eher unappetitlichem Material. Beuys überführt die Postkarte in braunen
Filz, in ein mit Schwefel beschichtetes Stahlblech oder einen massiven
Holzblock. Jenseits postalischer Tauglichkeit verbreiten all diese
Kommunikationsmedien ihre Anliegen auf eine ganz eigene Art – mit oder ganz
ohne Wort.
1 Jun 2017
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
## TAGS
Briefe
Buch
Post
Fotografie
Hannover
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