Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- „Das Adressbuch“ von Sophie Calle: Kunst am Rand der Legalität
> Die Konzeptkünstlerin Sophie Calle verursachte 1983 mit einer
> Artikelserie einen Skandal. Jetzt ist „Das Adressbuch“ erstmals auf
> Deutsch erschienen.
Bild: „Das Adressbuch“ von Sophie Calle ist eine sublimierte Form von Stalk…
Die Geschichte geht so: Frau findet in Paris ein Adressbuch auf der Straße.
Unter anderem steht die Anschrift des Eigentümers darin, neben den Adressen
von Freunden, Verwandten und Bekannten. Bevor die Frau es zurückschickt,
kopiert sie alle Seiten des Büchleins und beginnt eine lang angelegte
Recherche, die sie einer großen Tageszeitung, der Libération, als Kolumne
verkauft.
Sie beginnt, nacheinander die Adressen anzurufen, die im Buch verzeichnet
sind, und trifft sich mit denjenigen Personen, die bereit sind, Auskunft
über seinen Eigentümer zu geben: einen Mann mittleren Alters, den sie in
ihren Texten Pierre D. nennt. Über jedes dieser Treffen und das, was sie
dabei über Pierre D. erfährt, schreibt die Frau eine Kolumne. Die Texte
erscheinen als Serie in der Zeitung.
Nun ist die Frau in dieser Geschichte nicht irgendeine Frau, sondern eine
gut eingeführte Konzeptkünstlerin. [1][Sophie Calle, die heute zu den
weltweit bekanntesten Vertreterinnen dieser Disziplin zählt], verursachte
mit der Adressbuchaktion 1983 einen Skandal. Erst jetzt sind die Texte in
deutscher Übersetzung als Buch erschienen. In literarischer Hinsicht sind
sie eher uninteressant, sie haben im großen Ganzen die nüchterne Form von
Gesprächsprotokollen in Prosa, angereichert mit ein paar
Alltagsbeobachtungen.
Auch inhaltlich bleiben sie im Grunde recht zurückhaltend, was das
persönliche Leben des Ausrecherchierten betrifft. Es werden keine intimen
Details berührt, außerdem sind die meisten Befragten Männer, und von den
zahlreichen weiblichen Geliebten, die Pierre D. gehabt haben soll, kommt
nur eine, wohl sozusagen exemplarisch, kurz zu Wort.
Und doch entsteht allmählich ein gewissermaßen unscharf gezeichnetes
Charakterporträt. Wir beginnen einen Mann vor uns zu sehen, der einerseits
charismatisch, kreativ, charmant und wahrscheinlich oft verliebt ist, aber
gleichzeitig auch etwas antriebslos und möglicherweise nicht sehr fähig zu
tieferen Bindungen. Auch zwei Fotos – neben anderen, auf denen auch Orte zu
sehen sind, die Calle im Laufe ihrer Recherche aufsucht – gehen in das Buch
ein, auf denen Pierre D. zumindest teilweise zu sehen ist. Einmal von
hinten. Auf dem anderen Bild ist nur ein Arm zu erkennen.
## Etwas unbehaglich
Es gibt eigentlich nichts in all diesem Material, wodurch man diesen Mann
ganz sicher wiedererkennen würde, falls man ihn zufällig träfe. Und doch:
Hätte man ihn vorher schon gekannt, so wüsste man auf jeden Fall, dass er
gemeint ist. Das Ganze fühlt sich etwas unbehaglich an und ein wenig so,
als mache man sich uneingeladen in einer fremden Wohnung breit.
Erstaunlich eigentlich, dass so viele von Pierre D.s Freunden und Bekannten
das Spiel der Künstlerin mitspielen (manche verweigern sich aber auch),
obwohl Sophie Calle ihre Publikationsabsicht von vornherein offenlegt.
Funktionieren kann das wohl nur, da der Ausspionierte zum Zeitpunkt von
Calles Recherche gerade zwei Monate in Nordnorwegen weilt, also daher (wir
schreiben die achtziger Jahre) schlecht für Nachfragen und
Rückversicherungen erreichbar ist.
Angesichts dieses günstigen Zeitpunkts ist es schwer, an Zufall zu glauben
– zumal Calle später zugegeben haben soll, in Pierre D. etwas verliebt
gewesen zu sein. Auch dass sie das Adressbuch „gefunden“ habe, entspricht
wohl nicht unbedingt der Realität. (Wie sie in Wirklichkeit an das Buch
kam, scheint bisher unklar zu sein.)
## Erklärte Kunstabsicht
Was Calles Vorgehen von hundsgewöhnlichem Stalking unterscheidet, ist die
erklärte Kunstabsicht. Nun wäre ja ein großer Teil der Konzeptkunst ohne
diese erklärte Absicht keine Kunst. Umgekehrt lässt sich aber auch fragen,
ob allein die Absicht schon ausreicht, um ein bestimmtes Handeln in Kunst
zu verwandeln und damit gleichzeitig zu legitimieren. Oder ob die
Kunstabsicht auch solches Handeln rechtfertigt, das ohne diese Absicht als
sozial verwerflich (oder strafbar) angesehen werden müsste.
Pierre D. sah das, als er aus Lappland zurückgekehrt war, jedenfalls nicht
so. Er veröffentlichte, das schreibt Calle in ihrem Schlusswort, in der
Libération seinerseits einen Text, in dem er seinem Zorn über den Übergriff
Luft machte. Daneben ließ er ein Nacktfoto der Künstlerin abdrucken, das er
sich, wie Calle schreibt, „mit meinen Mitteln“ beschafft hatte. Er
verweigerte sich allen Bemühungen Calles, ihn zu treffen, und ließ ihr jede
weitere Publikation der Texte verbieten. Allerdings starb er 2005, und
seither gilt dieses Verbot offenbar nicht mehr.
Wie schade, dass Sophie Calle Pierre D.s Antworttext sowie das Nacktfoto,
oder auch nur das Foto (denn die Rechte daran dürften ja bei ihr selbst
liegen), nicht in ihr Buch mit aufgenommen hat. Wenn das Objekt eines
umstrittenen Konzeptkunstwerks sich auf eine Weise wehrt, bei der es die
Künstlerin mit ihren eigenen Mitteln schlägt – wird das dann nicht
unbedingt auch zu einem Teil dieses Werks?
## Ein blinder Fleck
Dieses letzte Kapitel der ganzen Aktion lediglich in einem knappen, fast
etwas beleidigt klingenden Schlusswort zusammenzufassen, hinterlässt den
vagen Eindruck einer unvollständig erzählten Geschichte, eines
unvollendeten Werks. Es bleibt ein blinder Fleck zurück; in menschlicher
wie in künstlerischer Hinsicht.
Sophie Calle selbst ist übrigens mit ihrer Adressbuchaktion in die
Literatur eingegangen: als Figur in Paul Austers „Leviathan“ (1992).
Auster spinnt die Beschreibung des Kunstprojekts auf eigene Weise fort: In
seinem Roman kommt der Ausspionierte dadurch vorzeitig zu Tode.
7 Jan 2020
## LINKS
[1] /Ausstellung-Control-No-Control/!5517982
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Buch
Konzeptkunst
Stalking
Schlaf
zeitgenössische Fotografie
Briefe
## ARTIKEL ZUM THEMA
Historikerin über vergesellschaftete Nachtruhe: „Wir schlafen nicht zum Verg…
Der Schlaf erscheint uns heute äußerst privat, sagt die Historikerin Hannah
Ahlheim – aber Ruhe und Erholung sind gesellschaftliche Ressourcen.
Ausstellung „[Control] No Control“: Unter Kontrolle
In der Hamburger Kunsthalle fragt die Ausstellung „[Control] No Control“,
wie Bilder zur Ausübung von Macht dienen können.
Kunst in Briefen: Wenn der Brief zum Konzept wird
Das Sprengel-Museum in Hannover nähert sich mit der Ausstellung „Zwischen
den Zeilen“ einer intimen Form der künstlerischen Arbeit – dem
geschriebenen Wort.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.