# taz.de -- Wahlkampf in Großbritannien: Unter Europafreunden | |
> Kate Hoey tritt im Londoner Wahlkreis Vauxhall an, einer Labour-Hochburg. | |
> Die Brexit-Enthusiastin muss um ihren Sitz bangen. | |
Bild: Kate Hoey passt sich nicht an | |
London taz | „Der Letzte der alten Serie, original 1989“, sagt die alte | |
Dame im schwarzen Businessanzug. Sie meint ihren weinroten Mini. Sie hätte | |
sich auch selbst meinen können. Im Jahr 1989 wurde Kate Hoey | |
Parlamentsabgeordnete für den Wahlkreis Vauxhall, der sich vom Londoner | |
Riesenrad am Südufer der Themse bis nach Brixton zieht. Vauxhall, das ist | |
seit Jahrzehnten eine Labour-Hochburg. | |
„Mein Einsatz gilt vor allem den Armen“, erklärt die 70-jährige | |
Labour-Politikerin. Selbstverständlich ist sie gegen Studiengebühren oder | |
für die Homoehe. Zugleich ist sie leidenschaftliche Verfechterin des | |
englischen Liberalismus: „Ich mag es nicht, wenn der Staat Leuten | |
vorschreibt, wie sie zu leben haben.“ Auch sich selbst lässt sie nichts | |
vorschreiben. | |
In ihrer 28-jährigen Laufbahn als Abgeordnete eckte Hoey immer wieder in | |
ihrer Partei an: Sie stimmte gegen schärfere Waffenkontrollen, gegen | |
Rauchverbote, für die Fuchsjagd und gegen den Irakkrieg, was sie 2003 das | |
Amt der Sportministerin in der Regierung von Tony Blair kostete. Hoey ist | |
auch seit Langem Kritikerin der EU. Beim Brexit-Wahlkampf im Vorjahr | |
schloss sie sich der radikalsten Brexit-Kampagne an: „Leave EU“ des | |
damaligen Ukip-Führers Nigel Farage. Sie machte sogar mit ihm Wahlkampf. | |
In ihrem Wahlkreis Vauxhall stimmten aber 78,6 Prozent der Wähler für den | |
Verbleib in der EU, der höchste Prozentsatz im Land mit Ausnahme | |
Gibraltars. Einige dieser EU-Befürworter wollen Kate Hoey bei den | |
Parlamentswahlen am 8. Juni dafür bestrafen. Sie scharen sich um die | |
oppositionellen Liberaldemokraten, die mit dem 34-jährigen investigativen | |
Journalisten George Turner antreten. Auf Lib-Dem-Flugblättern sieht man | |
eine Fotomontage: ein Gesicht, halb Hoey, halb Farage. Wer in Vauxhall | |
Labour wählt, kann auch gleich Ukip wählen, so die Botschaft. | |
## Weit verbreitete Skepsis | |
Der Lib-Dem-Kandidat Turner trägt einen Vollbart und einen gepflegten | |
Pagenschnitt. Mit seiner freundlichen Stimme, meist leger im Sakko | |
auftretend, macht Turner einen selbstbewussten Eindruck. In seinem kleinen | |
Wahlbüro in der Marktstraße Low Marsh drängen sich an die 25 Personen und | |
füllen enthusiastisch Briefumschläge. Dass Turner sie auf Flugblättern mit | |
Farage gleichsetzt und im Grunde als Rassistin hinstellt, empfindet die | |
Labour-Gegnerin Hoey als Unverschämtheit. „Ich habe im Parlament für die | |
Aufnahme von mehr Kinderflüchtlingen gestimmt. Warum sollen wir nur weiße | |
Europäer aus Rumänien und Bulgarien reinlassen und nicht mehr Bewohner des | |
Commonwealth“, sagt Hoey. | |
Im Gespräch mit der taz weist Turner den Vorwurf von sich, er habe Hoey | |
rassistisch genannt. Hoey selber habe gemeinsam mit Farage posiert, | |
erinnert der Liberale. „Hinzu kommt, dass Ukip in Vauxhall ihr zuliebe | |
keinen eigenen Kandidaten aufstellt.“ Hoeys Problem ist aber nicht nur ihre | |
Pro-Brexit-Haltung sondern auch die Tatsache, dass von der Sozialhilfe | |
abhängige Familien sich kaum an Wahlen beteiligen, auch ein Grund für die | |
Anti-Brexit-Stimmung in Vauxhall, glaubt sie. | |
Skepsis ist weit verbreitet. Busfahrer Terry Williams, 65, der an Diabetes | |
leidet, sagt: „So geht es immer, sie versprechen viel, halten wenig. Alles | |
Zeitverschwendung.“ Mark Delaney, 52, hat eine schwerbehinderte Tochter und | |
einen Sohn und Enkel mit mentalen Problemen. Er glaubt, dass Europäer, die | |
für weniger Geld oder gar nicht arbeiten, die Lage verschlimmert hätten. | |
Wegen Corbyn, „dem Unterstützer der IRA“, wie ihn die rechte Presse | |
tituliert, weil er sich vor Jahren mit Sinn Féin traf, will er, ein alter | |
Labour-Wähler, seine Stimme diesmal Theresa May geben. Das sei ihm, aus | |
protestantisch-nordirischer Familie, nach der Terrorattacke in Manchester | |
noch klarer geworden. | |
## Brexit nicht mehr wichtig? | |
Sein Nachbar, Tom Guha, 25, will ihn aber doch noch für Labour gewinnen. | |
Keiner sonst stehe für die Interessen der Arbeiterklasse, versucht es Guha, | |
ohne Erfolg. Auch der Finanzexperte Waqqas Ahmed, 34, der in einer | |
Luxuswohnung an der Themse lebt, wo die Liberaldemokraten kräftig Werbung | |
machten, wählt lieber konservativ, obwohl er den Brexit als falsch ansieht. | |
Noch mehr Unsicherheit sei schlecht für die Wirtschaft, glaubt er. | |
Die Konservativen waren bei den letzten Wahlen immerhin zweitstärkste | |
Partei in Vauxhall. Sollten die Lib Dems Labour genug Stimmen abnehmen, | |
könnten sogar die Tories den Wahlkreis Vauxhall gewinnen. In der Fetiman | |
Road, einer Straße mit sündhaft teuren Einzelhäusern, sieht man nur | |
Wahlplakate der Lib Dems in den Vorgärten und Fenstern. Auch Helena Gaynor, | |
53, hat eins aufgestellt, zum ersten Mal in ihrem Leben. Als ehemalige | |
Labour-Wählerin hat sie Schuldgefühle, gesteht sie, denn ihre erwachsenen | |
Kinder seien alle ausdrücklich für Labour und hielten sie für verrückt. | |
Doch als EU-Unterstützerin will sie eine offene Rechnung mit Hoey | |
begleichen. | |
Laut Hoey geht es seit der Veröffentlichung der Wahlplattform mit Labour | |
bergauf. Der Brexit sei nicht mehr das ausschlaggebende Thema. Auf dem | |
Rasen vor einem zweistöckigen Sozialwohnungsbau aus den 60er Jahren sitzt | |
Joanne Murphy, 59, mit Kindern und Enkeln in der Sonne. Murphy ist | |
arbeitslos. „Hoey hat sich immer für uns eingesetzt“, sagt sie. Auch der | |
Buchhändler Charlie Unsworth, 60, will Labour wählen. Auf Corbyns | |
progressives Parteiprogramm habe er Jahrzehnte gewartet, schwärmt er. Kate | |
Hoeys Haltung zum Brexit störe ihn, aber der Erfolg der Partei sei jetzt | |
wichtiger. Viele teilen diese Ansicht. | |
Nur Joseph Coleman, 50, der in einer Sozialwohnung in Battersea lebt, will | |
gegen den Trend von Wahlapathie und Labour-Enthusiasmus für die | |
Liberaldemokraten stimmen. 15 Jahre habe er hinter Gittern sitzen müssen. | |
Als ihm Insassen irgendwann beide Arme brachen, war es einzig die Berufung | |
auf die Menschenrechte, die ihm half, sagt er. „Ich wollte nicht wählen, | |
Politiker sind alle gleich, aber die europäischen Menschenrechte sind mir | |
wichtig.“ | |
1 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn | |
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