# taz.de -- Misshandlungen in einer Berliner Kita: Vertuscht, verschwiegen | |
> Kinder sollen fixiert und gedemütigt worden sein: Die Vorwürfe gegen eine | |
> Erzieherin sind vielfältig, Eltern reagieren entsetzt. | |
Bild: In einer Kita im Prenzlauer Berg sollen Kinder zum Essen gezwungen worden… | |
Berlin taz | Er weiß doch, sagt der Chef, auch nicht mehr, wem er hier | |
überhaupt noch vertrauen könne. Und er weiß gerade auch nicht, sagt er, wie | |
es mit dieser Kita weitergehen soll. Vielleicht muss er sie ganz | |
dichtmachen. Vielleicht kriegen sie das irgendwie noch hin. Vielleicht | |
schaffen es sogar die Erzieherinnen, wieder vertrauensvoll miteinander zu | |
reden. Vielleicht aber auch nicht. | |
Wenn ein Chef nicht weiß, wem er vertrauen kann, dann stimmt meistens | |
entweder etwas mit der Belegschaft nicht – oder mit dem Chef. Dieser hier, | |
Thilo Schwarz-Schlüßler, ist der Geschäftsführer einer Trägergesellschaft, | |
die in Berlin fünf Kindertagesstätten betreut, unter anderem in Prenzlauer | |
Berg. Das gemeinnützige Unternehmen heißt Kubibe und es geht um | |
Misshandlungsvorwürfe im Haus 1 der Kita Gleimstrolche. | |
In mindestens fünf Fällen soll dort eine Erzieherin Kleinkinder, die nicht | |
schlafen wollten, festgebunden und fixiert haben, mit dem Gesicht nach | |
unten. In mindestens drei Fällen soll sie Kinder auf Matratzen in andere | |
Zimmer getragen und dort aus einer Höhe von 50 bis 70 Zentimetern | |
abgeworfen haben. Wenn Kinder nicht essen wollten, soll sie mit ihren | |
Fingern nachgedrückt haben. Die Rede ist davon, dass sie mit Daumen und | |
Zeigefingern etwa Mandarinen in den Mündern der Kleinkinder zerteilte. Dies | |
geschah etwa in der „Schneckengruppe“. Dort können Kinder ab einem Alter | |
von zehn Monaten betreut werden. | |
Das sind die Vorwürfe, die bislang bekannt sind und die im Raum stehen in | |
dieser Einrichtung in Berlins Vorzeigeviertel Prenzlauer Berg, wo viele | |
der Väter bei Elternabenden lässige T-Shirts oder feine Hemden tragen und | |
Mütter gut geschnittene Röcke. | |
## Der Chef wirkt verzweifelt | |
Die beschuldigte Erzieherin konnte von der taz nicht erreicht werden. Sie | |
soll die Vorwürfe bestreiten. | |
Als Thilo Schwarz-Schlüßler an diesem Dienstagabend in der Kitaturnhalle im | |
Kellergeschoss vor den Eltern sitzt, benutzt er sehr oft das Wort „ich“. | |
Der Chef wirkt verzweifelt und schwitzt. Er schildert, was er alles | |
versucht habe, um die Vorwürfe aufzuklären. Aber, sagt er, es habe nun mal | |
einige Erzieherinnen gegeben, die sich ihm jetzt erst anvertraut hätten. | |
Die Vorwürfe, um die es geht, stammen aus dem Herbst 2016. Heute fällt | |
einigen Eltern auf: Das war eine Zeit, in der manche ihrer Kinder häufig | |
weinten, wenn sie in der Kita bleiben sollten. Das war eine Zeit, in der | |
einige ihrer Kinder Angstschübe hatten, wenn sie abends zu Hause zu Bett | |
gehen sollten. Ein Vater, dessen Sohn in der Gruppe war, berichtet der taz | |
davon, dass sein Sohn stets als Erstes das Licht anmacht, wenn er in einen | |
Raum kommt. Eine Mutter sagt, sie sei verunsichert, weil sei ja nicht | |
wissen könne, was alles passiert ist. Und immer wieder erzählen Eltern, | |
dass ihnen nun bestimmte Verhaltensauffälligkeiten plausibel vorkämen, die | |
sie sich zuvor nicht erklären konnten. | |
Als ein Vater beim Elternabend an diesem Dienstag erfährt, dass die | |
Geschäftsführung bereits im Februar von Vorwürfen wusste, wonach Kinder in | |
der Kita fixiert worden seien, verlässt er wutentbrannt den Raum. Er sagt: | |
„Ich muss mich doch als Vater darauf verlassen können, dass ich erfahre, | |
wenn es in der Kita zu besonderen Vorkommnissen kommt.“ Thilo | |
Schwarz-Schlüßler hält dagegen: Im Februar sei ihm das Ausmaß der Vorwürfe | |
noch gar nicht bewusst gewesen. | |
Etwa eine Woche ist es nun her, dass die Eltern von fünf Kindern einen | |
Brief von der Geschäftsleitung des Trägervereins Kubibe bekommen haben. | |
Darin heißt es: „Mehrere Kinder, darunter auch Ihres, wurden wiederholt | |
körperlich und/oder psychisch gedemütigt.“ Weiter heißt es in dem | |
Schreiben: „Die Vorwürfe und Hinweise sind so gravierend, dass ich als | |
Geschäftsführer umgehend nach Bekanntwerden des vollen Ausmaßes personelle | |
und strafrechtliche Konsequenzen ziehen musste.“ | |
## Fristlos entlassen | |
Eine der offenen Fragen ist: Was ist ein volles Ausmaß? Und wie konnte es | |
dazu kommen, dass andere Erzieherinnen offenbar wegschauten, als Kinder zum | |
Schlafen gefesselt und fixiert wurden? | |
Inzwischen, so bestätigt Geschäftsführer Schwarz-Schlüßler, sei die | |
Pädagogische Leitung im Haus 1 freigestellt worden und die beschuldigte | |
Erzieherin fristlos entlassen. Kommissarisch hat nun eine Kollegin die | |
Leitung übernommen: Aus dem Haus 2, einer Kita direkt nebenan unter der | |
gleichen Trägerschaft. Aufgrund pädagogischer Differenzen wurden die | |
Einrichtungen schon vor Jahren getrennt. Die Vorwürfe heute beziehen sich | |
nur auf Haus 1. | |
Ein Vorwurf, der im Raum steht: Die bisherige Leitung der dortigen | |
Kindertagesstätte habe die Vorfälle offenbar gedeckt – oder sich zumindest | |
einer Aufklärung verweigert. | |
So jedenfalls erklärt die Geschäftsführung der Trägergesellschaft den | |
Eltern, weshalb im Februar lediglich disziplinarische Maßnahmen ergriffen | |
wurden und die Erzieherin in eine andere Gruppe versetzt wurde. Im | |
Klartext: Worum es wirklich ging, sei dem Träger damals nicht klar geworden | |
– auch weil die Leitung des Hauses eine unrühmliche Rolle gespielt habe. | |
Das „volle Ausmaß“ sei auch deshalb nicht bekannt geworden, weil Zeuginnen | |
nicht offen gewesen seien. Und heute? Ist denn heute „das volle Ausmaß“ | |
bekannt? | |
## Psychodrama unter den Kolleginnen | |
Damit beginnt eine Deutungsschlacht um die Frage: Wer hat wann was gesagt? | |
Warum wollten, konnten oder durften andere Erzieherinnen sich nicht äußern? | |
Als die beschuldigte Erzieherin Ulrike A. in Folge dieser Vorwürfe aus dem | |
Februar versetzt wird, nimmt in der Kindertagesstätte ein Psychodrama unter | |
den Erzieherinnen seinen Lauf, bei dem es um Kollegialität geht, um falsch | |
verstandene Loyalität und um die Frage, was an den Strukturen nicht stimmt, | |
wenn sich niemand traut, zum Chef zu gehen, auch an der Kita-Leitung | |
vorbei. Sind dann die Erzieherinnen schuld? Oder ist es vielleicht auch der | |
Chef? | |
Erst Anfang April, Monate nach den inzwischen dokumentierten Geschehnissen | |
und Wochen nach ihrem Bekanntwerden, geht laut der zuständigen | |
Kita-Aufsicht in Berlin-Pankow dort eine Meldung ein. | |
Unterdessen erleben die Eltern in der Kita vor allem einen kaum noch zu | |
erklärenden Krankenstand. Etliche Erzieherinnen haben sich krankgemeldet. | |
Ausgerechnet die Gruppe der Kleinsten, wo es zu den Vorfällen kam, ist | |
besonders betroffen. Dem Träger gelingt es nicht, Ersatz für die vielen | |
Ausfälle zu beschaffen und die teils möglicherweise traumatisierten Kinder | |
adäquat zu betreuen. Anfang Mai wird ein Zettel ausgehängt. Eltern der | |
„Schnecken“ werden gebeten, ihre Kinder mittags abzuholen oder auch ganz zu | |
Hause zu lassen. Auf dem Zettel steht unter anderem: „Die Fürsorge- und | |
Aufsichtspflicht ist zurzeit in der Gruppe nicht mehr gewährleistet.“ | |
## Schnell den Arbeitgeber gewechselt | |
Ab diesem Zeitpunkt wird es weitere drei Wochen dauern, bis viele Eltern | |
erstmals offiziell erfahren, was der Hintergrund des massiven | |
Krankenstandes ist. Erst am 24. Mai geht dann in einem Schreiben an die | |
Elternvertreter ein Brief heraus, in dem auf die Vorgänge hingewiesen wird. | |
Schriftlich nach Hause erhalten offenbar lediglich fünf Eltern ein | |
Schreiben. Das sind jene, deren Kinder nachweislich betroffen sind. Oder | |
anders gesagt: bei denen sich aufgrund eindeutiger Zeugenaussagen nicht | |
mehr abstreiten lässt, dass sie betroffen sind. Der Geschäftsführer des | |
Trägervereins selbst, Thilo Schwarz-Schlüßler, sagt, ihm selbst sei das | |
Ausmaß erst am 18. Mai klar geworden. | |
Denn in der Zwischenzeit, und das ist entweder eine Besonderheit oder ein | |
Drama, haben sich einige Erzieherinnen zu reden getraut. Wer jedoch vor | |
allem aussagt: ehemalige Praktikantinnen und frühere Mitarbeiterinnen, die | |
die Praktiken in der Gruppe beobachtet haben und sich schnell entschieden, | |
den Arbeitgeber zu wechseln. Einige von ihnen sind nun bereit, | |
eidesstattliche Versicherungen abzugeben. Das könnte nicht nur die | |
beschuldigte Erzieherin Ulrike A. in Schwierigkeiten bringen, sondern unter | |
Umständen auch den Kita-Träger Kubibe. | |
Ein Sprecher der zuständigen Berliner Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD) | |
sagte der taz: „Wir halten den Fall für sehr ernst und gravierend. Aus | |
unserer Sicht sind die Vorwürfe sehr erheblich.“ | |
Vor den Eltern sagte Thilo Schwarz-Schlüßler am Dienstag: „Ich habe | |
Verständnis für alle Eltern, die ihre Kinder nun bei uns abmelden.“ Erste | |
Eltern haben das bereits getan. Andere baten darum, die Kita nun | |
keinesfalls zu schließen. Am kommenden Dienstag bleibt das Haus 1 nun für | |
einen Tag geschlossen. Dann sollen die Mitarbeiterinnen mit dem Chef über | |
ihre Gesprächskultur reden, über Loyalität und Kollegialität. | |
31 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Martin Kaul | |
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