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# taz.de -- Richtungsstreit der Grünen: Breitseite aus Stuttgart
> Zuviel Gesinnungsethik? Winfried Kretschmann analysiert oberschlau die
> Fehler der NRW-Grünen – und sorgt für böses Blut. Cem Özdemir
> interveniert.
Bild: Bang und düster fragen sich Grüne im Bund: Schießt uns Kretschmann wun…
Berlin taz | Eigentlich wollten sich die Grünen in Zukunft richtig
liebhaben. Schluss mit dem ewigen Flügelstreit, ab jetzt sei „Unterhaken“
von Realos und Linksgrünen nötig, so die Idee. Abgeordnete beider
Parteiflügel warben in der vergangenen Woche öffentlich für ein
Friedensabkommen, um den Wahlerfolg im Bund nicht zu gefährden.
Doch der Pakt explodierte am Freitag wie eine Flasche Bionade in der
Mikrowelle. Winfried Kretschmann, Ministerpräsident in Baden-Württemberg
und Oberrealo, [1][schoss in einem Interview] eine Breitseite auf die
grünen Wahlverlierer in Nordrhein-Westfalen ab. Jene keilten empört zurück.
Am Ende schaltete sich gar Spitzenkandidat Cem Özdemir ein – mit einem
alarmierten Appell für mehr Geschlossenheit.
„Wahlen gewinnt oder verliert man gemeinsam“, sagte Özdemir taz.de am
Freitag. Die Wahlaufarbeitung in Nordrhein-Westfalen laufe, sie sei
dringend notwendig. „Das machen die Grünen in NRW. Einseitige, öffentliche
Ratschläge von der Seitenlinie – ob von Ministerpräsidenten, ehemaligen
Spitzenkandidaten oder von anderen – sind nicht hilfreich.“ Es müsse
Schluss sein mit der Selbstbeschäftigung, so Özdemir. „Wir brauchen
Geschlossenheit statt Flügeldebatten von vorgestern.“
Özdemir, neben Katrin Göring-Eckardt Spitzenkandidat für den
Bundestagswahlkampf, zielte damit in Richtung Südwesten. Dort hatte
Kretschmann der Stuttgarter Zeitung ein Interview gegeben, das die Gemüter
in der verstörten Ökopartei erhitzte. Kretschmann kritisiert darin scharf
den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen – und gibt der Bundespartei Tipps bei
der Themenauswahl.
## Provokation per Interview
„Wir haben dort einen eher vom linken Flügel dominierten Landesverband“,
sagte er zum Beispiel mit Blick auf NRW. Da gebe es immer „einen
gesinnungsethischen, einen idealistischen Überschuss“. Und: „Das kann
leicht nach hinten losgehen.“ Der gesamten Partei empfahl Kretschmann, mehr
die eigenen Kernthemen nach vorne zu bringen. Sie müsse sich nicht immer
„an Themen abarbeiten, bei denen wir nichts gewinnen können – wie etwa die
Ausweitung der Sicheren Herkunftsländer auf die Maghreb-Staaten“.
Diese Sätze sind in mehrfacher Hinsicht eine Provokation für andere Grüne.
Erstens gilt das Prinzip, dass jeder Landesverband seine Strategie selbst
festlegt – und die entsprechenden Schlüsse zieht. Dann lassen sich
Linksgrüne, die den konservativen Kurs Kretschmanns ablehnen, ungern
öffentlich einen gesinnungsethischen Überschuss vorwerfen.
Aber auch Kretschmanns Rat zu Gewinnerthemen sorgte für böses Blut. Das
Nein zu sicheren Herkunftsstaaten im Maghreb vertreten die Grünen im Bund,
aber auch in diversen Landesverbänden. Sie hatten den Plan der
Bundesregierung, Menschen unkompliziert und schnell nach Algerien, Tunesien
und Marokko abzuschieben, im Bundesrat gestoppt. Und sie bewerben das als
menschenrechtspolitischen Erfolg. Kretschmann – das ist lange bekannt –
vertritt dabei eine Minderheitsposition in seiner Partei.
In Nordrhein-Westfalen, aber auch im Rest der Partei kamen die Äußerungen
denkbar schlecht an. Unverblümt wiesen diverse Grüne die Kritik zurück.
„Solche Debatten sind völlig kontraproduktiv, wenn wir unsere Partei
geschlossen in den Wahlkampf führen wollen“, sagte Parteichefin Simone
Peter. Als linkslibertäre Kraft stritten die Grünen für Selbstbestimmung,
Gerechtigkeit, Ökologie und Demokratie. „Wir sind nicht monothematisch
aufgestellt.“
## „Instrumentalisierung verbietet sich“
In NRW wurde der Tonfall noch schärfer. „Eine Instrumentalisierung unseres
Wahlergebnisses für Flügelkämpfe verbietet sich“, betonte die
Ex-Spitzenkandidatin und Noch-Bildungsministerin Sylvia Löhrmann. „Aus
meiner Sicht gibt es keine monokausale Erklärung.“
Landeschef Sven Lehmann sagte, er finde es befremdlich, Wahlniederlagen für
eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Fraktionsgeschäftsführerin Britta
Haßelmann, ebenfalls aus NRW, sagte: „Bei aller Wertschätzung für Winfried
Kretschmann meinerseits, wir NRWlerinnen brauchen jetzt keine öffentlichen
Ratschläge zur Aufarbeitung unserer Wahlniederlage.“ Im übrigen sei sie
„gern auch Gesinnungsethikerin“.
Kretschmanns Intervention ließ strategisch denkende Bundesgrüne ratlos
zurück. Denkt er wirklich, der Bundespartei mit solchen Provokationen
seinen Kurs aufzwingen zu können? Weiß er nicht, dass Streit im
Bundestagswahlkampf zerstörerisch wirkt? „Kretschmann ist als Figur extrem
wichtig für uns“, sagte ein Stratege in Berlin schon vor Monaten. „Aber er
ist leider auch eine loose cannon.“
Die Grünen haben sowieso schon Probleme genug, seit Monaten dümpelt die
Partei in Umfragen auf niedrigem Niveau. Sie wollen Mitte Juni auf einem
Bundesparteitag ihr Wahlprogramm beschließen und hoffen auf eine hübsche
Inszenierung von Kampfeslust und Geschlossenheit.
Man erinnert sich angesichts all dessen an den Wahlkampf 2013. Jener endete
mit einem allgemein als schlecht empfundenen 8,4-Prozent-Ergebnis. Auch
damals hatte sich Kretschmann wenig um Geschlossenheit geschert.
Er attackierte kurz vor dem Programmparteitag in einem Interview die
eigenen Steuerpläne, obwohl seine Leute sie in jahrelangen Planungsrunden
abgesegnet hatten. Wenig später begann eine Kampagne mächtiger
Wirtschaftsverbände gegen die Grünen, Kretschmann war ihr willkommener
Stichwortgeber. Tenor: Die grünen Steuerpläne seien eine Attacke auf die
Mittelschicht und gefährdeten hunderttausende Jobs.
19 May 2017
## LINKS
[1] http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.interview-mit-winfried-kretschmann…
## AUTOREN
Ulrich Schulte
## TAGS
Bündnis 90/Die Grünen
Winfried Kretschmann
Grüne
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
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Grüne
Wahlkampf
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