# taz.de -- Grün-Schwarz in Baden-Württemberg: Verschwimmende Grenzen | |
> Seit einem Jahr regiert in Baden-Württemberg der Grüne Winfried | |
> Kretschmann mit der CDU. Krisen gab es nicht, die Bilanz ist dennoch | |
> glanzlos. | |
Bild: Manche Grünen fragen sich schon, was nach ihm bleibt: Winfried Kretschma… | |
KARLSRUHE taz | Es sieht ein bisschen aus wie der Spatenstich zu einer | |
Umgehungsstraße, was die beiden Regierungsfraktionen am Dienstag am Landtag | |
veranstaltet haben. Ein Jahr Grün-Schwarz feierten die Abgeordneten etwas | |
voreilig und pflanzten gemeinsam eine Winterlinde. | |
Winterlinde? Das deutet auf frostiges Klima hin. Doch die Stimmung in der | |
einzigartigen Koalition aus grünem Regierungschef und schwarzem | |
Juniorpartner ist trotz Knatsch um Abschiebungen, Windräder und | |
Dieselfahrverbote überraschend gut. Ihm fiele spontan nichts ein, wo es | |
haken würde, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann in seiner gewohnt | |
entschleunigten Art. Und sein Vize von der CDU, Thomas Strobl, lächelt | |
breit dazu. | |
Was ist hier schwarz, was ist hier grün? Es war ja viel die Rede von der | |
Komplementärkoalition. Von den Partnern, die sich nicht gesucht, aber | |
gefunden hatten. Vor allem, weil die FDP mit den Grünen über eine Ampel | |
nicht einmal sprechen wollte. Ein Jahr später nun verschwimmen in der | |
Regierung die Grenzen zwischen Grün und Schwarz zu einer farblich | |
undefinierbaren Masse. | |
Kretschmann überlässt seinem Innenminister das Feld der Sicherheit. Selbst | |
dann, wenn Strobl – um den starken Mann zu markieren – die Falschen | |
abschieben möchte und das Bundesverfassungsgericht eingreifen muss. Selbst | |
dann, wenn der CDU-Mann verkündet, der Polizei in Terroreinsätzen auch den | |
Einsatz von Handgranaten erlauben zu wollen. | |
## Schwarze Machtkämpfe | |
Kretschmann behandelt Strobl auch deshalb so schonend, weil er weiß, dass | |
der ehemalige Bundespolitiker in seinem Landesverband einen schweren Stand | |
hat, gleichzeitig aber als Garant für den Koalitionsfrieden gilt. Denn die | |
CDU-Spitze besteht aus lauter Ich-AGs. Legendär sind die genervten Blicke | |
von Innenminister Strobl, Fraktionschef Wolfgang Reinhardt und | |
Justizminister Guido Wolf, wenn der jeweils andere das Wort ergreift. | |
Alle drei haben den Kampf um die Vormacht in der Partei nur vertagt. | |
Strobl, der noch kurz vor der Regierungsbildung eine Probeabstimmung in der | |
eigenen Fraktion verlor und seitdem um die Hausmacht kämpft. Sein | |
Gegenspieler Reinhardt, den sie in der eigenen Partei wegen seiner | |
auffälligen Jacketts „den Zirkusdirektor“ nennen, sieht sich vor allem als | |
Lordsiegelbewahrer der Traditions-Union und als natürlichen nächsten | |
Regierungschef. Und der krachend gescheiterte Ex-Spitzenkandidat Guido | |
Wolf, der als Justizminister vor allem damit beschäftigt ist, keine Fehler | |
zu machen, weil er sich einer neuen Spitzenkandidatur für fähig hält. Was | |
aber in der CDU wohl nur er so sieht. | |
Strobl nutzt derweil den Burgfrieden in der Partei und die Koalition mit | |
den Grünen, um mit dem jungen Generalsekretär Manuel Hagel die CDU in ihrem | |
Gesellschaftsbild und ihrer Programmatik zu modernisieren. Durchaus mit | |
Anleihen bei den Grünen, etwa bei Klima und Umweltschutz. Bis dieser | |
Prozess abgeschlossen ist, hat Strobl kein Interesse, die Koalition platzen | |
zu lassen. | |
Während sich die Union also mit ihrer Juniorrolle abgefunden hat, grummelt | |
es zunehmend bei den Grünen. Gerade in der Flüchtlingspolitik. Strobls | |
Abschiebungen haben die Grünen an einer empfindlichen Stelle getroffen. | |
Dabei hatte sich der Pragmatiker Kretschmann die Arbeitsteilung gerade dort | |
ideal vorgestellt. Die CDU kümmert sich um das schmutzige Geschäft mit den | |
Abschiebungen und die Grünen um die Integration. Doch während Strobl aus | |
Sicht des Koalitionspartners über das Ziel hinausschießt, bleibt der neue | |
Integrationsminister, der Ravensburger Grüne Manne Lucha, ganz gegen sein | |
sonst so robustes Temperament, recht blass. | |
Ein anderes Gemeinschaftsprojekt der Koalition könnte die Digitalisierung | |
sein. Die ist im Innenministerium angesiedelt, aber auch in zig anderen | |
Ministerien. Und angesichts der Veränderungen, die in einer zusehends | |
vernetzten Lebens- und Arbeitswelt bevorstehen, ist das ein wirkliches | |
Megathema – aber vielleicht zu groß für eine Landesregierung. Jedenfalls | |
hört man davon bislang vor allem in Sonntagsreden. | |
Zaudernd zeigt sich Grün-Schwarz auch im Umgang mit der Automobilindustrie. | |
Bei den Konsequenzen aus den enormen Feinstaubbelastungen in der | |
Stuttgarter Innenstadt drückte sich Kretschmann lange vor klaren Ansagen an | |
die Automobilindustrie. Erst als die Landesregierung von den Klagen der | |
Deutschen Umwelthilfe dazu gezwungen wurde, drohte sie der Industrie mit | |
Fahrverboten. Inzwischen hofft Kretschmann auf die Nachrüstung der alten | |
Diesel auf Euro6-Niveau. Dann könnte auf die ungeliebten Fahrverbote | |
verzichtet werden. | |
## Unruhe statt pragmatische Harmonie | |
So fällt die Bilanz von Grün-Schwarz eher mau aus. Aber immerhin: Große | |
Koalitionskrisen sind ebenfalls ausgeblieben. An der grünen Basis aber | |
sorgt die pragmatische Harmonie zunehmend für Unruhe. Kretschmann als der | |
Oberkonservative – das mag in der Koalition mit der SPD funktioniert haben, | |
zusammen mit der CDU verschwimmen dabei aber die Grenzen. Selbst | |
pragmatische Partei-Altvordere grummeln hinter vorgehaltener Hand, die | |
Koalition sei „zu wenig grün“. | |
Manche an der Basis fürchten gar, Kretschmann – der als | |
Beinahe-Bundespräsidentenkandidat der Kanzlerin die Ausfahrt nach Bellevue | |
nur knapp verpasst hat – könnte nun gegenüber der Partei nach dem Motto | |
„Nach mir die Sintflut“ handeln. Hauptsache, die Regierungsbilanz stimmt. | |
Der Kretschmann-Effekt der Grünen wird von Demoskopen auf 10 bis 12 Prozent | |
an Wählerstimmen berechnet, egal wer sein Nachfolger ist. | |
Während sich die Grünen also fragen, was nach Kretschmann bleibt, grübelt | |
die Union, was zu tun ist, wenn der grüne Frontmann trotz seiner bald 68 | |
Jahre noch einmal antritt. Denn auch wenn Kretschmann in jüngster Zeit | |
öffentlich klagte, im Amt zu wenig Nachtschlaf zu bekommen, hört man in | |
Stuttgart immer wieder Stimmen, dass der Grüne doch zu einer dritten | |
Amtszeit fähig sein könnte. Zumindest für die CDU wäre das: eine | |
Horrorvision. | |
11 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Benno Stieber | |
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