# taz.de -- Angesagte Musik in Kirchen: Huldigt den Noisegöttern! | |
> Auch für Heiden und Abtrünnige erfüllen Gotteshäuser in Berlin ihren | |
> Sinn: Als Konzertorte sind sie immer angesagter. Selbst die Hipster | |
> pilgern hin | |
Bild: Der Altar ist gedeckt: Vor dem Nurse With Wound-Konzert in der Sophienkir… | |
Kürzlich vor der Sophienkirche in Mitte: Alles, was in der Berliner | |
Popszene etwas auf sich hält, pilgert Richtung Gotteshaus. Mehrere hundert | |
Besucher stehen brav in der Schlange vor der Kirche, trinken Bier und | |
unterhalten sich, warten in in hippen Dresses mit Hochwasserhosen, | |
Bomberjacke und Undercut-Frisur. | |
Die britische Avantgarde-Band [1][Nurse With Wound] gibt ein Konzert, unter | |
der Kirchenkuppel ist später experimentelle Elektronik und Krach zu hören, | |
das Publikum im vollen Saal wiegt auf Kirchenbänken mit. | |
In diesen Tagen, während des [2][Kirchentages], mögen die heiligen Hallen | |
wieder ihrer eigentlichen Bestimmung nachkommen, den Rest des Jahres werden | |
sie in Berlin aber auch oft zu Konzertsälen umfunktioniert, da sind sie | |
Veranstaltungsorte wie das SO36 oder das Huxley's auch. Im gottlosen | |
Berlin, in dem über 60 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner | |
konfessionslos sind, ergibt es natürlich Sinn, dass man die Kirchen rockt. | |
Dass Gotteshäuser als besondere Konzertorte immer beliebter werden, zeigt | |
die Eventreihe, die die Italienerin Manuela Benetton im Frühjahr gestartet | |
hat. Nach dem ausverkauften Abend mit der Experimentalcombo Nurse With | |
Wound holt die aus Turin stammende Veranstalterin am Mittwoch die nächste | |
Legende nach Berlin: Masami Akita alias [3][Merzbow] tritt dann in der | |
St.-Elisabeth-Kirche auf – für Fans, die in dem seit 1979 aktiven Musiker | |
einen Noise-Elektronik-Gott sehen, ein wahrhaft würdiger Ort. | |
Für Organisatorin Benetton sind Kathedralen nahezu ideale Locations: „Ein | |
Konzert in einer Kirche ist ein völlig anderes Erlebnis als an einem | |
anderen Ort“, erklärt sie, „die Leute gehen mit einer anderen Haltung in | |
ein solches Konzert. Sie sind ruhiger und fokussierter. Sie respektieren | |
den Künstler in einem solchen Ambiente viel mehr.“ | |
## Weinen in Reihe eins | |
Benetton ist seit Ende der Nullerjahre an der Spree, seit 2013 veranstaltet | |
sie eigene Konzertreihen, meist mit experimenteller elektronischer Musik. | |
Zunächst hat sie die Bands in die Kantine am Berghain, ins NK Projekt oder | |
ins ausland geholt, vergangenes Jahr dann lotste sie den US-Minimal-Pionier | |
Terry Riley und dessen Sohn Gyan Riley in die Zionskirche. „Das war ein | |
total berührendes Konzert, manche Menschen in den ersten Reihen haben | |
geweint“, erzählt sie. Das habe sie bestärkt, die sakralen Räume weiterhin | |
für Livekonzerte zu nutzen. | |
Das Phänomen, Kirchen als Veranstaltungsorte zu nutzen, ist alles andere | |
als neu. In der DDR und in Ostberlin waren die evangelischen Kirchen | |
ohnehin Orte, an denen zum Beispiel Punk- und Jazzmusik stattfinden durfte. | |
Und in Westberlin haben sich schon in der Vorwendezeiten Kirchen für | |
weltliche Musik geöffnet, die Passionskirche etwa veranstaltet seit den | |
frühen Achtzigern Konzerte. | |
„Es fing an mit Jazzkonzerten“, sagt Sigrid Künstner, die für die | |
Passionskirche und die Heilig-Kreuz-Kirche die Musikveranstaltungen managt, | |
„es gab damals eine Konzertreihe namens ‚Concerts in Passion‘.“ In beid… | |
Kirchen finden heute vor allem Singer-Songwriter- und Global-Pop-Konzerte | |
statt, Veranstalter wie Loft, Trinity und Weltkonzerte buchen die Säle. Mit | |
der im Winter laufenden Reihe „Nachtklänge“ – meditative Musik – hat m… | |
auch ein eigenes Format entwickelt. | |
Wären die Popkonzerte nicht, würden die sakralen Räume oft leer stehen. | |
„Ich glaube, dass die Kirchen auch ihre Verantwortung spüren“, meint | |
Künstner. „Wenn die Räume nur einmal in der Woche für den Gottesdienst | |
öffnen würden, wäre das auch unökonomisch.“ Denn, ja, eine Einnahmequelle | |
ist die Vermietung natürlich auch. Für kommerzielle Veranstalter kosten | |
Künstners Kirchen in der Regel gut rund 1.100 Euro pro Abend, für soziale | |
Initiativen aber gibt es Vergünstigungen. | |
Ob es stilistisch und inhaltlich No-gos gibt? „Bei manchen Konzerten hat | |
man schon Bauchschmerzen“, sagt Künstner, „Heavy Metal oder Gothic würden | |
eher nicht in unser Profil passen.“ Nun, aber für diese Stile gibt es ja | |
vielleicht noch ein anderes leerstehendes Gotteshäuschen in der Hauptstadt | |
der Atheisten und Agnostiker. | |
27 May 2017 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=9sYhCaEZdOo | |
[2] /Kirchentag/!t5067162/ | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=AguPH0XBxdw | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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