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# taz.de -- Porträt der Kieler Autorin Juliana Kálnay: Virtuosin der poetisch…
> Die Kieler Autorin Juliana Kálnay unterminiert in ihrem Debütroman „Eine
> kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“ ständig die Realität und
> konstruiert eine neue – surreal logische – Welt. Im richtigen Leben
> agiert sie weit bodenständiger
Bild: Verwebt bizarre Charaktere zu Prosaminiaturen: Juliana Kálnay
Juliana Kálnay lacht zustimmend. Ja, dass ihr Buch ungewöhnlich sei, habe
sie oft gehört. „Und es hieß auch immer, dass es ein bisschen schwer zu
vermitteln sei. Jetzt sind wir ganz positiv überrascht“, fügt sie hinzu. Im
Café dampft der heiße Tee aus der Tasse vor ihr. Genau das Richtige, denn
der Wind weht an diesem Tag kalt durch die Kieler Straßen.
„Wir“, damit meint die 28jährige sich und den Wagenbach Verlag, bei dem
kürzlich ihr Debüt “Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“
erschien. Man hatte dort nicht erwartet, dass die ersten Rezensionen so
schnell kommen würden, aber in einigen wichtigen Feuilletons wurde die
Debütantin bereits sehr gelobt. Vielleicht gerade weil ihre Erzählweise in
der deutschsprachigen Literatur so selten ist.
Bei Kálnay entzieht nämlich das Phantastische dem Realen ständig den Boden.
Auf diese Weise erzählt sie von einem Haus und seinen BewohnerInnen. „Das
Haus atmet“ heißt es an einer Stelle, gleich einem lebendigen Organismus
steht es in stetigem Austausch mit den Menschen, die es beherbergt. Die
Autorin entwirft ein poetisches Geflecht einer Vielzahl von
Prosaminiaturen, in denen die LeserInnen – geführt von mehreren
Erzählstimmen – verschiedensten Figuren begegnen.
Rita etwa, die das Haus am längsten kennt, der es „in den Knochen steckt“;
Tom, der samt Gummibaum im Aufzug lebt; Maia, ein maulwurfähnliches Kind,
das sich in Erdlöchern versteckt und eines Tages verschwindet; Don, der zu
einem Baum wird, weiter geliebt von seiner Frau Lina. Es gibt die
„chronisch Schlaflosen“, die ihre Augen und Ohren überall haben; und die
Kinder, die jeden Samstag mit dem Feuer experimentieren und sich im Zufügen
von Brandmalen überbieten. Und noch viele mehr. Das ist so rätselhaft, wie
es klingt – und es wird auch keine Auflösungen geben.
„Was dieses Eindringen des Phantastischen in die Realität betrifft, so bin
ich unheimlich stark von Julio Cortázar beeinflusst. Und dass ich ihn
gelesen habe, hängt sicher auch damit zusammen, dass meine Eltern aus
Argentinien kommen“, erzählt Juliana Kálnay. Cortázar war ein
argentinischer Autor und ein Meister darin, das Surreale wie
selbstverständlich der Realität zu unterlegen und so deren Grenzen
aufzusprengen.
Aber Kálnay, das klingt nicht nach einem argentinischen Namen. Nein, das
sei ungarisch, ihr Großvater väterlicherseits sei Ungar gewesen und nach
Argentinien eingewandert, erläutert die Autorin. Ihre Eltern, beide dort
geboren, seien dann aus beruflichen Gründen 1987 nach Deutschland gegangen,
sie sind ArchitektInnen. Als Juliana Kalnay elf war, ist die Familie dann
nach Spanien gezogen, wo ihr jüngerer Bruder und ihre Eltern auch heute
leben. Die Autorin spricht – und schreibt – beide Sprachen perfekt.
Mit der Frage, ob das eine Bereicherung für ihr literarisches Schreiben
sei, kann Juliana Kálnay nicht so viel anfangen. Sie habe ja keinen
Vergleich, wie es mit nur einer Sprache wäre, sagt sie dann etwas
zögerlich. Und dass sie „eher mal frustriert“ sei, „wenn ich auf Spanisch
das perfekte Wort habe, es aber im Deutschen keine Entsprechung dafür
gibt“.
Nach Deutschland zurückgekehrt ist sie für das Studium. Und das hat sie
sich sehr gezielt ausgewählt. Sie sei alle Studiengänge auf einer Liste
durchgegangen und habe dann Hildesheim entdeckt. „Kreatives Schreiben und
Journalismus, das hörte sich super an“, erzählt sie. „Damit fühlte es si…
echter an, dass sich die Schriftstellerei als realistische Option auftut.“
Ein bisschen scheint es bei diesen Worten, als traue sie ihrer
Entscheidung, Schriftstellerin zu sein, noch immer nicht ganz. Oft blickt
sie beim Sprechen auf ihre Hände, die sich schnell und gestenreich knapp
über der Tischoberfläche bewegen. Eine Routine gibt es (noch) nicht. Aber
es gibt das Buch, es gibt die Lesungen. Und im Sommer das Stipendium am
Literarischen Colloquium Berlin.
Dennoch ist es Juliana Kálnay wichtig, sich auch in Zukunft mit einem
anderen Job finanziell abzusichern, um „mich künstlerisch frei zu fühlen“.
Auch nach dem Studienabschluss 2013 hatte sie sich gleich ein Volontariat
im Literaturhaus Schleswig-Holstein besorgt, das hat sie nach Kiel geführt.
Demnächst läuft ihr Vertrag dort aus. Das Buch hat sie neben dieser Arbeit
fertig geschrieben. Ein Grund, warum sie für das eher schmale Werk recht
lange gebraucht hat.
In ihrer Literatur – und das ist ganz wunderbar – öffnet sie
Assoziationsräume, deutet Motive wie Einsamkeit, Außenseitertum, Sehnsucht
an, aber sie schafft keine Eindeutigkeiten, sondern belässt die Figuren und
ihre nur lose verknüpften Geschichten in der poetischen Schwebe. Das sei
ein großer Reiz für sie, dieses „Aushalten der Ungewissheit, diese
Offenheit, das Dazwischen“.
Auch die Momente des Unheimlichen, wie sie in ihrem Buch zum Beispiel das
rätselhafte und nicht näher zu definierende Wesen Kasi auslöst, habe sie
schon als Kind gemocht: „Ich habe sehr gerne Schauergeschichten gelesen und
dann diesen Moment, in dem Angst, aber eben auch eine Lust steckt,
genossen“, erzählt sie. Zudem bedeute das Sich-Einlassen auf das
Phantastische auch, dass „die Dinge nur in der von mir selbst gebauten
Logik stimmig sein müssen, das ist die größtmögliche Freiheit“. Die
Schwebe, die Freiheit, beides will sie sich in ihrer Kunst, dem Schreiben,
unbedingt bewahren – und geht daher im sogenannten echten Leben lieber
planvoll und eher vorsichtig vor.
19 May 2017
## AUTOREN
Carola Ebeling
## TAGS
Literatur
Prosa
Surrealismus
Auto
Französische Literatur
Terézia Mora
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