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# taz.de -- Die Wahrheit: Du musst das schön finden!
> Selten zeigt sich die Versuchung so sinister wie im Fall des dunklen
> Engels aus dem übel beleumundeten Achterndiek Nord.
Sie sagte, sie heiße Agathe, aber wahrscheinlich war auch das gelogen. Sie
schwebte wie ein dunkler Engel durch die Uni, und in ihrem Blick lag
Verachtung für alles: Für Heines Liebeslyrik, für die nichtswürdigen
Wichtelmännchen aus ihrem Semester, erst recht natürlich für das
Mensaessen.
Insofern wundert es mich noch heute, dass ausgerechnet ich es wagte, sie
nach einem Date zu fragen – denn ich war ein arg schüchternes Bürschchen
und schaffte es nicht einmal, bei einer hübschen Bäckereiverkäuferin ein
Brötchen zu kaufen, ohne zu stottern. Sie schaute mich an, und ich wartete
darauf, dass sie in schallendes Gelächter ausbrach. Doch sie wiegte nur
schmunzelnd den Kopf und sagte: „Klar. Morgen Abend dann um acht, S-Bahn
Achterndiek Nord, ich warte dort auf dich.“
Es gab keinen weniger romantischen Ort in der Stadt als Achterndiek Nord.
Hier grenzte der hässlichste Teil des Hafens an eine Betonkastensiedlung
aus den frühen 70ern, die kaum 15 Jahre nach ihrer Erbauung schon zu
zerbröseln begann.
Agathe grinste breit, als ich unsicher aus der S-Bahn stieg. Sie schob mich
durch einen Tunnel, der mit cremefarbenen Fliesen ausgekleidet war und nach
Urin stank. Am Ausgang blickten wir auf ein nur von wenigen schummrigen
Straßenlaternen beleuchtetes Panorama von trostlosen Wohnblocks und
Sperrmüllhaufen, und sie sagte: „Du musst das schön finden, denn das ist
die Zukunft!“
Ich nickte, obwohl ich Heines Liebeslyrik deutlich schöner fand und meine
Vorstellung von der Zukunft damals noch stark von Sonnenschein und Glück
für alle geprägt war – aber natürlich widersprach ich nicht, denn ich
wollte ja ihr Herz gewinnen und sie nicht gleich vor den Kopf stoßen.
Sie schob mich hinaus, führte mich durch die Finsternis, und ich wartete
jeden Moment darauf, dass sich eine Räuberbande auf uns stürzte. „Hast du
Angst?“, fragte sie. „Natürlich nicht!“, krächzte ich, und sie lachte u…
rief: „Das ist gut, denn du musst das schön finden, einfach nur schön!“
Schließlich gelangten wir auf eine kleine Anhöhe, auf der ein Imbisswagen
stand. „Bratwurst und Bier!“, sagte sie zu dem Imbissmann, während ich ein
paar Schritte weiterging. Man konnte den hässlichen Teil des Hafens
überblicken, der von vereinzelten käsegelben Lichtern beleuchtet war und
nach gegorener Erbsensuppe roch. „Schön!“, sagte ich: „Einfach schön!“
Als ich mich umdrehte, war sie verschwunden. „Wo ist sie?“, fragte ich den
Imbissmann. Er aber schob mir Bier und Bratwurst zu und sagte nur:
„Zwofuffzich.“ Dann sagte er: „Suchst Du ’nen Job? Ich hätte da was, �…
Lebensstellung. Was hältst du von meiner Tochter?“ Er zeigte auf eine nicht
mehr ganz junge Frau, die wie er nach zu vielen Jahren in einem
verlotterten Imbisswagen aussah, und ich hätte um ein Haar gesagt: „Schön,
einfach schön!“, aber dann dachte ich an Heines Liebeslyrik, Sonnenschein
und Glück und sprang einem Leben zwischen Frittierfett und Erbsensuppe noch
mal von der Schippe.
17 May 2017
## AUTOREN
Joachim Schulz
## TAGS
Deutsche Universitäten
Heinrich Heine
Architektur
Theater
Sommer
Restaurant
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