| # taz.de -- Ein Jahr Kinderschutzambulanzen: Kindeswohl gefährdet | |
| > Fachleute untersuchten im ersten Jahr 366 Kinder, die möglicherweise | |
| > misshandelt oder vernachlässigt wurden. Jeder dritte Verdacht bestätigte | |
| > sich. | |
| Bild: Im Wartezimmer: In Hannover gibt es eine Kinderschutzambulanz bereits sei… | |
| Dem Lehrer fällt auf, dass der achtjährige Ben immer wieder Verletzungen an | |
| den Armen hat. Er weiß von Problemen bei Ben zu Hause. Wird der Junge etwa | |
| misshandelt? Der Lehrer ist unsicher und berichtet schließlich dem | |
| Jugendamt von seinem Verdacht. Die zuständige Sozialarbeiterin kennt Ben | |
| bereits, die Eltern leben getrennt, es gibt Streit um das Sorgerecht. Im | |
| Gespräch sagt die Mutter, der Kindsvater schlage den Jungen an den | |
| Wochenenden, an denen er ihn sehe. Aber stimmt das? | |
| Ben gibt es so nicht, seine Geschichte ist stark verfremdet. Mit | |
| vergleichbaren Fällen hat man es in den Jugendämtern, in Praxen, Kliniken, | |
| Schulen oder Kitas allerdings immer wieder zu tun. Damit einem Verdacht auf | |
| Kindeswohlgefährdung schnell nachgegangen wird, richtete Berlin im April | |
| 2016 fünf Kinderschutzambulanzen ein. In Kliniken in Neukölln, Mitte, | |
| Westend, Buch und Tempelhof begutachten seitdem Fachleute Betroffene und | |
| schätzen die Situation der Familien ein. Der Bedarf ist da: Im ersten Jahr | |
| wurden insgesamt 366 Kinder und Jugendliche wegen des Verdachts auf | |
| Kindeswohlgefährdung vorgestellt, so die Bilanz – also im Schnitt ein Fall | |
| pro Tag. | |
| ## Körperlich misshandelt? | |
| „Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass immer wieder schlimme | |
| Kinderschutzfälle bis hin zum Tod geschehen“, sagte Jugendsenatorin Sandra | |
| Scheeres (SPD) bei der Pressekonferenz am Montag. Deshalb sei es wichtig, | |
| schnell zu klären, ob an einem Verdacht etwas dran sei. Vor allem die | |
| Jugendämter, aber auch Kinderärzte haben das Angebot der | |
| Gewaltschutzambulanzen im ersten Jahr genutzt. Bei über der Hälfte der | |
| Überweisungen wurden körperliche Misshandlungen vermutet, bei 18 Prozent | |
| der Fälle gab es einen Verdacht auf sexualisierte Gewalt. | |
| In den Kinderschutzambulanzen werden die Jungen und Mädchen von Fachärzten | |
| untersucht, auch Psychologen oder Psychiater kommen häufig dazu. Wenn | |
| nötig, können Rechtsmedizinerinnen der ebenfalls beteiligten Berliner | |
| Gewaltschutzambulanz Spuren so sichern, dass man sie auch vor Gericht | |
| verwenden kann. | |
| Das Risiko einer Kindeswohlgefährdung sei dann besonders hoch, wenn es in | |
| einer Familie viel Stress gebe, berichtete Sylvester von Bismarck, | |
| Leitender Oberarzt im Vivantes-Klinikum Neukölln. Dazu gehöre fehlendes | |
| Geld, Arbeitslosigkeit oder auch Suchterkrankungen. „Wir schauen, wie viel | |
| Ressourcen eine Familie hat, wie der Kontakt zwischen Eltern und Kind ist.“ | |
| Die Statistik der fünf Ambulanzen zeigt, dass insgesamt etwas mehr Mädchen | |
| versorgt wurden als Jungen. Den MitarbeiterInnen der DRK Kliniken in | |
| Westend fiel noch etwas auf: Rund ein Viertel ihrer Patienten wies eine | |
| chronische Behinderung auf. Bei diesen Mädchen und Jungen bestehe offenbar | |
| ein höheres Risiko, Opfer von Misshandlung oder Vernachlässigung zu werden, | |
| so eine Sprecherin. Viele der Patienten hätten zudem massive Probleme mit | |
| den Zähnen. | |
| Am Ende der Untersuchungen geben die MitarbeiterInnen der | |
| Kinderschutzambulanz eine Einschätzung ab. Bei knapp jedem dritten Kind | |
| bestätigte sich im ersten Jahr der Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung, | |
| so Scheeres. In diesen Fällen muss das Jugendamt eingreifen. Wenn | |
| Erziehungshilfen nicht ausreichen, die Kinder zu schützen, kann das Amt sie | |
| in Obhut nehmen – also aus der Familie holen und in Heimen, Pflegefamilien | |
| oder betreuten WGs unterbringen. | |
| Oft ist die Lage in den Familien nicht eindeutig: Verletzungen können auch | |
| von Unfällen herrühren, die Aussagen der Beteiligten widersprechen sich. In | |
| knapp der Hälfte der Fälle kamen die Fachleute der Ambulanzen denn auch | |
| nicht zu einem klaren Ergebnis. Handlungsempfehlungen für die Jugendämter | |
| können sie trotzdem geben, etwa dass die elterliche Erziehungsfähigkeit | |
| überprüft werden muss oder eine bestimmte Therapie sinnvoll wäre. | |
| ## Große Erleichterung | |
| Doch es gab auch erfreuliche Wendungen: In 23 Prozent der Fälle konnten die | |
| MitarbeiterInnen der Ambulanzen eine Kindeswohlgefährdung ausschließen. | |
| Auch das ist eine wichtige Erkenntnis: Der Verdacht, das eigene Kind zu | |
| vernachlässigen oder zu misshandeln, wiegt schwer. Wird er ausgeräumt, kann | |
| das für die Eltern sehr entlastend sein. | |
| Der Senat zahlt für die Kinderschutzambulanzen rund eine halbe Million Euro | |
| pro Jahr. Sie sind Teil des 2007 beschlossenen Netzwerks Kinderschutz. Ein | |
| Jahr zuvor hatte der Tod des zweijährigen Kevin in Bremen bundesweit für | |
| Entsetzen gesorgt. Das Jugendamt hatte die Vormundschaft übernommen, | |
| trotzdem lebte der Junge weiter beim gewalttätigen Ziehvater, der das Kind | |
| schwer misshandelte. Auch in Berlin versuchte man daraufhin, die | |
| Koordination zwischen den verschiedenen Stellen zu verbessern. Scheeres | |
| sagte: „Mit den Kinderschutzambulanzen wurde eine wesentliche Lücke im | |
| Netzwerk geschlossen.“ | |
| 15 May 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Antje Lang-Lendorff | |
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