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# taz.de -- Die Comicjournalistin: Mein Onkel, der Wehrdienstverweiger
> In ihren Comics zeigt die Zeichnerin Hannah Brinkmann ihren Blick auf die
> Realität. Gerade arbeitet sie an einem Werk über ihren Onkel
Bild: Eine Lieblingsseite der Autorin: Hermann auf dem Weg zum Truppenübungspl…
Irgendwann dachte ich: ‚Ich kann das mit diesem riesigen Zettelwust nicht
mehr!‘“, sagt Hannah Brinkmann und lacht. „Jetzt habe ich so richtig
spießige Ordner.“ Vorsichtig setzt sie den Stapel auf ihrem schlichten
Holztisch ab. In den Ordnern befinden sich, nunmehr fein säuberlich
abgeheftet, zahlreiche Skizzenhefte und Storyboards – Vorarbeiten zu
Brinkmanns neuestem Werk, einem Comicbuch.
Mitten auf dem obersten Heft steht in schwarzer Handschrift: „Anfang“. Das
Wort ist rot unterstrichen. Es ist der Anfang der Geschichte von Brinkmanns
Onkel, den sie nie kennenlernen konnte. Hermann Brinkmann beging 1974
Selbstmord, weil er es in der Bundeswehr nicht aushielt. Konsequent, aber
vergeblich hatte er versucht, seinen Dienst aus pazifistischer Überzeugung
zu verweigern. „Ich möchte erreichen, dass sich die Leute Gedanken darüber
machen, was damals in Deutschland passiert ist“, sagt Hannah Brinkmann.
„Erst durch Menschen wie meinen Onkel gibt es ja heute die Wehrpflicht
nicht mehr.“
Und aus noch einem Grund ist es Hannah Brinkmann ein sehr großes Anliegen,
die Geschichte Hermanns zu erzählen. Das Haus in Lindern im Kreis
Oldenburg, in dem er aufwuchs, gehört noch heute der Familie. „Ich habe
dort meine halbe Kindheit verbracht“, sagt sie. „Ich fühle mich nirgends so
zu Hause wie dort.“
Hannah Brinkmann ist 26 Jahre alt und studiert an der Hochschule für
angewandte Wissenschaften in Hamburg (HAW) Illustration. Mit
übereinandergeschlagenen Beinen sitzt sie am Tisch. Hinter ihr steht ein
Bücherregal, aus dem Fenster zu ihrer Linken blickt man auf die
Landungsbrücken. Sie spricht mit ruhiger Stimme und sieht ihr Gegenüber mit
klaren, blauen Augen direkt an. Und sie ist sehr gerade. Sie geht gerade,
sitzt gerade, das Bob-Dylan-Poster an ihrer Wand hängt gerade und sogar
ihre weite Hose ist gerade geschnitten.
Im Studium entdeckte sie, dass Zeichnungen nicht nur Geschichten
illustrieren, sondern sie auch eigenständig erzählen können. Das ist für
Brinkmann das Faszinierende am Comiczeichnen. „Ich kann Geschichten
entwickeln und sie in Bildern erzählen. Das sind die beiden Dinge, die ich
am meisten liebe“, sagt sie.
Kurz nachdem sie mit dem Comiczeichnen begonnen hatte, sagte ihr ein
Freund, wenn sie Comics zeichnen wolle, müsse sie auch welche lesen. Also
lieh sie „einen Riesenrucksack voll“ Comics aus und las sie. „Danach war
ich hooked.“ Einen Print-Comic zu lesen sei „ein total schönes Gefühl“,
schwärmt sie. „Die vermitteln auch ein ganz anderes Zeitgefühl als Filme
oder Bücher.“
In ihren Comics möchte Hannah Brinkmann die Realität abbilden. „Du kannst
nichts zeichnen, das du nicht weißt“, sagt sie. Comicjournalismus nennt
sich ihr Genre, das in Deutschland noch nicht so weit verbreitet ist.
„Comicjournalisten erzählen Geschichten von echten Leuten, vielleicht von
Outsidern, die vielleicht auch die Autoren selbst sind“, erklärt Brinkmann.
Gemeinsam mit fünf Kommilitoninnen gründete sie 2015 das
Online-Comicmagazin „Odradek“. „Der Name gefiel uns, weil die meisten nic…
sofort etwas damit anfangen können, sondern erst mal fragen: ‚Hä, was ist
das?‘“, sagt sie. Dann schenkt sie sich aus einer geraden Porzellankanne
einen Tee ein.
Was ein Odradek ist, sollen die Leute selbst herausfinden. „Heute würden
die meisten es wahrscheinlich googlen“, sagt Brinkmann und umschließt mit
den Händen ihre Teetasse. „Aber man kann auch gerne in Büchern suchen.“
Ihre Grübchen lassen ihr Lächeln ein bisschen verschmitzt wirken.
## Eroberung des Weltalls
Im Magazin „Odradek“ erscheinen einmal jährlich kurze und meist animierte
Comics verschiedener ZeichnerInnen. Im September 2016 erschien die erste
Ausgabe zum Thema „Superkraft“. Die Comics erzählen von der Eroberung des
Weltalls, den sieben Weltwundern der Antike, der Wiederaufforstung des
Regenwalds oder von einer Geburt.
Das Thema der zweiten Ausgabe lautet „Flut“, die Comics sind bereits in
Arbeit. „Wir alle machen das freiwillig und umsonst, weil wir es einfach
gerne machen“, sagt Brinkmann.
Mit ihrer Begeisterung wollen die „Odradek“-MacherInnen möglichst viele
anstecken. „Online können wir viele Leute erreichen und ihnen die
Bildsprache näher bringen“, sagt Brinkmann. „Es ist natürlich unterhaltsa…
wenn man klicken und scrollen kann und sich die Bilder bewegen.“
Außerdem seien Online-Comics für die LeserInnen nicht so zeitintensiv: „Es
ist ein schnelleres Geschichtenerzählen.“ Das sei wegen der kurzen
Aufmerksamkeitsspanne nötig, die Leute Internetinhalten für gewöhnlich
widmeten. „Meine Geschichte in der ersten ‚Odradek‘-Ausgabe ist eigentlich
auch schon zu lang“, sagt sie. „Ich habe mal die Zeit gestoppt: Ich habe
fünfzehn Minuten gebraucht, um sie zu lesen“.
## Todesanzeige in der FAZ
Brinkmann erzählt gern lange Geschichten. Wie die von Hermann. „Wenn ich
nur noch drei Monate zu leben hätte, würde ich versuchen, dieses Buch
fertigzustellen“, sagt sie. Ihr Interesse an der Geschichte ihres Onkels
wurde durch die Todesanzeige geweckt, die die Familie nach dem Tod Hermanns
in der FAZ schaltete und die Brinkmann mit vierzehn Jahren im Haus ihrer
verstorbenen Großmutter fand.
Aus der Anzeige ging hervor, dass Hermann während seiner Zeit bei der
Bundeswehr an Depressionen litt und nur vier Monate nach seiner Einberufung
starb. „Ich wollte unbedingt mehr darüber wissen“, erzählt Brinkmann. In
der Familie wussten alle, dass Hermann Selbstmord begangen hatte, viel
geredet wurde darüber allerdings nicht. „Ich komme aus einem sehr
katholischen Dorf. Selbstmord ist nichts, worüber man dort gut reden kann“,
sagt Brinkmann. Und nachbohren wollte sie nicht, um ihre Familie zu
schonen: „Weil es immer noch so tief sitzt.“
Also sammelte sie auf andere Weise Material. Drei Monate lang recherchierte
sie in Archiven, las Bücher und kontaktierte ExpertInnen,
Kriegsdienstverweigerer-Verbände und die Bundeswehr, um Informationen zu
den damaligen Abläufen zu bekommen und vielleicht Spuren zu finden, die sie
zu Hermann führen würden.
Eine wichtige Informationsquelle war Günter Wallraffs „Mein Tagebuch aus
der Bundeswehr“, das Aufzeichnungen aus dem Jahr 1963 enthält. „Wallraff
schildert genau, worum es mir ging und was mich interessiert hat“, sagt
Brinkmann. Auch Wallraff weigerte sich, eine Waffe in die Hand zu nehmen
und schilderte in seinem Tagebuch die Schikanen, denen er deswegen
ausgesetzt war. Das half Brinkmann dabei, sich vorzustellen, in welcher
Situation sich Hermann befand und wie er sich gefühlt haben könnte.
Ein Bild von Hermanns Situation und seiner Zeit wollte sie sich machen –
und zwar auch buchstäblich. „Ich zeichne immer alles, das ist irgendwie
mein Stil“, sagt sie. „Vielleicht kommt das von ‚Tim & Struppi‘, da kann
man auch immer jede Kleinigkeit sehen.“
Jede Kleinigkeit in ihrem Comic hat Brinkmann recherchiert. „Fotos von dem
Kamin-Zimmer machen!“, steht neben dem Entwurf einer Szene im Storyboard.
Nicht immer war es so einfach. So versuchte Brinkmann, Zutritt zur Kaserne
zu bekommen, in der Hermann stationiert war. Allerdings bekam sie nicht die
Erlaubnis, die Räume zu fotografieren oder zu betreten – es handelt sich um
eine Hochsicherheitskaserne.
Um sie trotzdem realistisch zeichnen zu können, suchte Brinkmann weiter
nach Bildmaterial und stieß auf den Film „Neue Vahr Süd“. Hier wird der
Bremer Protagonist zur Bundeswehr eingezogen, weil er vergessen hat, zu
verweigern. „Der Film spielt zwar in den Achtzigern, aber da ist wenigstens
noch ein bisschen dieser Muff drin“, sagt Brinkmann.
Zusätzlich sammelte sie „ordnerweise Bilder mit Zeug“. Dazu gehört auch e…
Katalog des schwedischen Wahrenhauses Oscar Ahren aus den Jahren 1951/52,
in dem man offenbar alles Erdenkliche kaufen konnte – von Kleidung über
Einrichtungsgegenstände bis hin zu Dekoration. „Damit habe ich ganze Räume
eingerichtet“, lacht Brinkmann und blickt auf die vielen bunten
Klebezettel, die aus dem Katalog herausschauen.
Hintergrundinformationen recherchieren, Blickwinkel und Erzählperspektiven
finden, Scripte und Storyboards entwerfen, Dialoge schreiben und das Ganze
in eine Geschichte umsetzen – das alles sind Schritte von Brinkmanns Arbeit
an ihrem Comicbuch. „Der Berliner Comiczeichner Mawill hat einmal gesagt:
‚Comiczeichnen ist wie Filmemachen. Nur ohne Team‘, das finde ich sehr
passend“, sagt sie.
## Möglichst realistisch
Am Ende kommt es neben den Bildern auch auf die Sprache an: „Gerade weil
sie so wenig Raum einnehmen, sollen Dialoge, Wortlaute und Redewendungen
möglichst realistisch sein.“
Am anstrengendsten findet Hannah Brinkmann den Anfang, wenn sie eine Szene
„aufmacht“, wie sie sagt. „Das erfordert am meisten Zeit und Ruhe.“
Zeichnen tut sie auf Papier, die weiteren Schritte erfolgen am Computer.
„Das Kolorieren geht eigentlich, das kann ich auch im Zug machen oder dabei
Podcasts hören.“ Einer ihrer Lieblingspodcasts sei „This American Life“.
„Die haben immer total interessante Geschichten.“
Was sie auch tut, ob sie sie liest, hört oder erzählt – Hanah Brinkmann
scheint voller Geschichten zu sein. Erst einmal möchte sie unbedingt die
von Hermann fertig erzählen. Und dann? Ihr Lebensziel laute „ganz, ganz
viele Bücher schreiben“, sagt sie. „Im Moment kann ich noch träumen. Ich
brauche nicht viel Geld und kann mich ausprobieren. Was will man mehr?“
21 May 2017
## AUTOREN
Lena Eckert
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