# taz.de -- Hass im Internet: Wir müssen Liebe organisieren | |
> Der Hass im Netz hat System, meint unsere Autorin. Deshalb müsse auch | |
> Liebe im Internet organisiert werden. Eine Gemeinschaftsaufgabe. | |
Bild: Ein Plädoyer für mehr Liebe | |
Das letzte Jahr war ein merkwürdiges Jahr. Ein Jahr, in dem viele meiner | |
Generation zum ersten Mal etwas fühlten, was wir schon immer wussten: dass | |
wir in einer historischen Ausnahmesituation leben. Noch nie gab es so lange | |
relativen Frieden in Westeuropa. Und nichts garantiert, dass die Zukunft | |
besser wird als die Vergangenheit. Dies zu fühlen ist etwas fundamental | |
anderes, als dies zu wissen. | |
Nächste Woche treffen sich Tausende Menschen auf der [1][re:publica, | |
Europas größter Netzkonferenz]. Menschen, die sich um die Zukunft sorgen | |
und an Lösungen arbeiten wollen. Ihr Motto ist in diesem Jahr „Love Out | |
Loud.“ Ein Aufruf für mehr Liebe, der im Jahr davor auf der re:publica | |
seinen Anfang nahm. Damals stand ich dort auf der Bühne und sprach darüber, | |
dass der Hass im Netz organisiert ist. Wenn wir uns nicht organisieren, | |
verlieren wir. Angesichts des Hasses ist Schweigen Zustimmung. | |
„Organisierte Liebe“ nannte ich den Vortrag. | |
Nicht weil ich mir eine rosarote Welt wünsche, sondern weil ich hoffe, dass | |
wir genauso angetrieben werden von Zustimmung wie durch Kritik. Dass wir | |
konstruktive Diskussionen führen können – ja, streiten, einander | |
kritisieren, aber nicht mit der Absicht, zu zerstören, sondern aufzubauen. | |
Im Mai letzten Jahres waren Trump, Brexit, der Putschversuch in der Türkei | |
und die darauf folgende massenhafte Inhaftierung von Journalist_innen und | |
Beamt_innen noch nicht geschehen. Noch war es für viele einfach, | |
Hasstiraden im Internet, das Aufstreben von rechtspopulistischen Gruppen zu | |
ignorieren – weil sie nicht betroffen waren. Weil sie nicht zu einer | |
marginalisierten Gruppe gehörten; weil sie den Luxus hatten, dass ihre | |
Existenz nicht infrage gestellt wurde. Muslim_innen, Schwarze, sexuelle und | |
ethnische Minderheiten hatten diesen Luxus nicht. In mir brodelte Frust | |
über die Ignoranz derer, die sich Ignoranz leisten konnten. | |
Viele der betroffenen Menschen resignierten. Sie fragten sich, was ihr | |
Platz in einer Gesellschaft ist, in der eine aufstrebende Partei ihr | |
gesamtes Programm auf die Diskriminierung einer religiösen Minderheit | |
aufbaut. Andere Betroffene machten tapfer weiter, versuchten, Besonnenheit | |
einzubringen, griffen nach Zahlen, Statistiken, erklärten und erklärten. | |
Doch dabei legitimierten sie, legitimierten wir, die Betroffenen, durch | |
unser Engagement ebendiese Diskussionen. Wir haben mitgeholfen, die Frage, | |
ob der Islam zu Deutschland gehört, zu einer legitimen Frage zu machen, | |
wohl wissend, dass die Antwort auch irgendwann lauten kann: Nein, der Islam | |
gehört nicht zu Deutschland. Zu Muslimen, die nicht zu Deutschland gehören, | |
ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. | |
## Auf der Bühne Rotz und Wasser geheult | |
Wir antworten auf die absurdesten Fragen, die schlimmsten Unterstellungen. | |
„Nimm das nicht persönlich.“ – „Seid nicht so emotional“, sagte man … | |
So schalteten wir unsere Emotionen aus. So schaltete ich meine Emotionen | |
aus. | |
Ich hatte genug davon, so zu tun, als könne ich mich mit Leichtigkeit an | |
Diskussionen beteiligen, in denen die Grundlagen der eigenen Existenz | |
infrage gestellt werden. So zu tun, als hätte ich kein Problem damit, mit | |
Rassisten auf einer Bühne zu debattieren, ob Muslime genetisch dümmer seien | |
als andere. Ich hatte es satt. | |
Statt der Gesellschaft wie eine intellektuelle Putzfrau hinterherzuräumen, | |
Dinge geradezurücken, Schadensbegrenzung zu betreiben und immer auf Abruf | |
bereit zu sein für den nächsten Hirnriss, den man uns als intellektuelle | |
Debatte oder „legitime Islamkritik“ verkauft. | |
Am Morgen meines Vortrags schrieb ich mein ganzes Manuskript im Hotelzimmer | |
um. Ich las ihn mir immer wieder vor in der Hoffnung, die Wahrheit zu | |
sprechen würde weniger wehtun und ich könnte auf der Bühne stehen, ohne | |
Emotionen zu zeigen. Sachlich bleiben. Neutral. | |
Und so stand ich auf der Bühne und heulte Rotz und Wasser. | |
Man hat mich seitdem oft gefragt, wie Liebe zu organisieren sei. Ich möchte | |
diese Frage nicht allein beantworten. Sondern aufwecken, Menschen dazu | |
anzuregen, Verantwortung zu übernehmen. Im letzten Jahr fürchtete ich, man | |
würde den Ruf nach mehr Liebe pathetisch, naiv finden. Ich bin dankbar, das | |
dem nicht so ist. Und ich bin hoffnungsvoll, dass wir neue Lösungen, neue | |
Antworten finden werden. Gemeinsam. | |
7 May 2017 | |
## LINKS | |
[1] https://re-publica.com/de | |
## AUTOREN | |
Kübra Gümüsay | |
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