# taz.de -- Vor der Landtagswahl in NRW: Marx’ Missionare | |
> Der Essener Norden könnte eine Goldgrube für die Linkspartei sein. Mit | |
> der Spitzenkandidatin Özlem Alev Demirel im Häuserwahlkampf. | |
Bild: „Die Menschen in Altenessen müssten eigentlich uns wählen“, findet … | |
Essen taz | „Guten Tag, mein Name ist Özlem Alev Demirel, ich kandidiere | |
für die Landtagswahl und wollte mal fragen, wo der Schuh drückt.“ Die Frau | |
mit den kurz geschnittenen grauen Haaren, die Demirel die Tür geöffnet hat, | |
schüttelt energisch den Kopf: „Nein danke, hier im Haus sind alle schon | |
Christen.“ – „Aber ich bin von der Linken.“ – „Ach so“, sagt die … | |
dachte von den Zeugen Jehovas.“ | |
Auch wenn Özlem Alev Demirel, die kurdischstämmige, kettenrauchende | |
Kommunistin, berufstätige Mutter von zwei kleinen Kindern und | |
Spitzenkandidatin der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen, kaum etwas mit | |
den bibeltreuen Christen gemein hat – so ganz falsch ist der flüchtige | |
erste Eindruck nicht. Wie Missionare ziehen Demirel und andere | |
Linkspartei-Aktivisten an einem Sonnabend im April durch den Essener | |
Stadtteil Altenessen und machen Haustürwahlkampf. Bewaffnet mit Klemmbrett, | |
Umhängetasche und Wahlkampfzeitung. | |
Im Norden des einstigen Zechenviertels stehen etliche Wohnungen leer, im | |
Süden dagegen wächst der Bezirk durch, wie es im Verwaltungsjargon heißt, | |
„marginalisierte Gruppen“ – Arme, Ausländer, Arbeitslose. Potenzielle | |
Wähler der Linken also – Altenessen könnte eine Goldgrube für die Partei | |
sein. Doch die Wähler in spe wollen überzeugt werden. | |
Ähnlich wie die Zeugen Jehovas bundesweit ist die Linkspartei in | |
Nordrhein-Westfalen etwas marginalisiert. Bei der Landtagswahl vor fünf | |
Jahren flog sie aus dem Landtag. Die Umfrageergebnisse sehen sie derzeit | |
bei 5 Prozent. Am 21. Mai geht es für die Partei also um alles – oder | |
wieder nichts. Etwa 450.000 Stimmen braucht die Partei für den Einzug in | |
den Düsseldorfer Landtag – jede einzelne neu gewonnene Stimme zählt. Und | |
wird hart erkämpft. | |
Die 33-jährige Demirel, die in Düsseldorf wohnt, hat sich an diesem | |
wolkenverhangenen Samstag mit dem Altenessener Direktkandidaten Jasper | |
Prigge zusammengetan. Prigge ist ungefähr der komplette Gegenentwurf zum | |
Direktkandidaten der AfD in dem Bezirk, dem einstigen SPD-Ratsherren Guido | |
Reil. Reil gibt sich breitbeinig und macht auf Malocher. Prigge ist Anwalt, | |
schwul und geht trotz seiner 28 Jahre locker als Student durch. An den | |
Wohnungstüren stellt er sich vor als „der Jasper aus Essen“. | |
## „Ich bin gegen Demokratie“ | |
Prigge und Demirel nehmen sich zusammen Haus für Haus in der schnurgeraden | |
Karlstraße vor, die von Mehr- und einigen Einfamilienhäusern gesäumt ist. | |
Prigge arbeitet sich durch das Klingelbrett des ersten Mietshauses. Es | |
knackst in der Gegensprechanlage: „Hallo, hier ist die Linke, wir machen | |
eine Umfrage“, erklärt er. Doch niemand öffnet. Weiter. | |
Erst im sechsten Haus werden sie eingelassen. „Ich fange hier an, geh du | |
nach oben“, meint Prigge zu Demirel. Die Teams sollen immer zu zweit in die | |
Häuser gehen, aber möglichst allein mit den Leuten sprechen. Demirel | |
schnauft, als sie in der vierten Etage ist. Ein älterer Mann öffnet die | |
Tür. Demirel stellt sich vor. „Ich bin gegen Demokratie“, sagt der Mann | |
knapp. Klapp. | |
Nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal systematisch setzt die Linke | |
bundesweit auf den „aufsuchenden Wahlkampf“. Dabei sollen die Aktivisten | |
auf keinen Fall mit dem Mitgliedsantrag wedeln oder den Eindruck | |
vermitteln, es ginge nur um die Stimme der Menschen. Man hat den Anspruch, | |
die Leute mit ihren Problemen abzuholen und möglichst zu bereits | |
existierenden Strukturen zu lotsen – zur Mieterinitiative oder zum | |
Frühstück der Arbeitslosen. Die große Politik im Kleinen also; die Linke | |
erfindet sich neu als Kümmererpartei auf Beinen und grast die Basis ab. | |
## Wo die Rechte mobilisiert | |
Wie man mit den Leuten ins Gespräch kommt und das Klemmbrett dabei so ein | |
bisschen schräg hält, damit Neugier geweckt wird, haben die Essener | |
Wahlkämpfer in der Essener Geschäftsstelle der Linkspartei geübt. „Wir | |
wollen die Leute nicht zutexten, sondern: Hey, wir wollen wissen, wie geht | |
es euch“, erklärt Daniel Kerekeš, der Freiwillige in Essen für den | |
Haustürwahlkampf schult. 29 Jahre ist er und sieht ein wenig wie der junge | |
Karl Marx auf dem Filmplakat aus, das über dem Fenster des Büros hängt. Als | |
Faustregel gelte: 30 Prozent selber reden, 70 Prozent reden lassen. | |
Altenessen habe man bewusst ausgewählt. Weil es eben keine linke Hochburg | |
sei, sondern ein Brennpunktbezirk, in dem sich aktuell die AfD breitmacht. | |
„Wir müssen in die Viertel, wo die Rechte mobilisiert, aber wo die Leute | |
eigentlich uns wählen müssten“, erklärt Kerekeš mit leuchtenden Augen. �… | |
macht es bitte nicht so wie die Grünen – voll Zeugen-Jehova-mäßig.“ | |
Im nächsten Haus, das Demirel und Prigge betreten, empfängt sie | |
Hundegebell. Im Treppenhaus unterhält sich ein Älterer im Blaumann mit | |
seinem Nachbarn, dessen mächtiger Bauch die Aufschrift auf seinem T-Shirt | |
gut lesbar aufspannt: „Ich bin über 50. Bringen Sie mich zu meinem | |
Motorrad.“ Der sagt zu Demirel: „Ich habe kein Vertrauen zu Politikern. Dat | |
sind, auf Deutsch gesagt: Gangster.“ Demirel stemmt die Arme in die Seiten. | |
So gut das mit Klemmbrett eben geht: „Sehe ich aus wie ein Gangster?“ Er | |
blickt sie an. „Sie vielleicht nicht.“ Sie gibt dem Mann eine | |
Wahlkampfzeitung. Der studiert sie stirnrunzelnd, dann hellt sich seine | |
Miene auf. „Sehen Se. Hier steht dit ja: Wir sind link.“ – „Die Linke�… | |
korrigiert Demirel. | |
Durch den nächsten Hausflur, den Prigge und Demirel betreten, zieht | |
Essensgeruch. Ein Mann mit grauem Bürstenschnitt öffnet die Tür: „Ich lehne | |
Sie ab“, unterbricht er Demirels „Wir sind die Linke und wollen wissen, wo | |
der Schuh drückt“-Eröffnung. „Warum?“ – „Wegen ihres Namens: Linke�… | |
er und zieht die Tür zu. „Das war ein Nazi“, murmelt Demirel zu sich. Eine | |
klare Eins. | |
## Fünf passiert in Altenessen nicht | |
Beim Workshop in der Essener Geschäftsstelle hatte Maria Wegscheider zuvor | |
die „Sympathieskala“ erläutert. Wie Daniel Kerekeš schult Wegscheider | |
Aktivisten im Haustürwahlkampf. Die Sympathien fürs eigene Anliegen werden | |
von eins – „Klare Ablehnung der Linkspartei, hat keinen Sinn“ – bis fü… | |
„Will sofort bei der Linken mitmachen“ – erfasst. „Fünf ist optimal, | |
passiert aber in Altenessen nicht“, warnt Wegscheider die Wahlkämpfer vor. | |
Die sollten sich auf die „Dreien“ konzentrieren: „Keine Grundsympathie f�… | |
die Linke, aber den Themen gegenüber aufgeschlossen.“ „Jedes nette Gesprä… | |
zählt“, ermuntert sie die Wahlkämpfer. | |
Treppauf, treppab gehen Prigge und Demirel, auf jedem zweiten Fußabtreter | |
heißt es „Welcome“ oder „Willkommen“, doch die Türen dahinter bleiben | |
geschlossen, oder die Bewohner interessieren sich nicht für Politik oder | |
haben gerade keine Zeit. Demirel hat sich eine Winston angezündet. Ihren | |
schwarzen Mantel hat sie über den Arm gehängt. Sie sieht ein bisschen | |
erschöpft aus. Nein, sagt sie, frustriert sei sie nicht. „Aber was mich | |
erschreckt, ist, dass so viele Menschen kein Interesse an Politik haben.“ | |
Im jüngst erschienen Armuts- und Reichtumsbericht wird eine Studie der | |
Bertelsmann-Stiftung referiert, die das Wahlverhalten unterschiedlicher | |
Schichten untersucht. „Je mehr Menschen in einem Viertel arbeitslos waren, | |
desto niedriger fiel dort die Wahlbeteiligung aus, der statistische | |
Zusammenhang ist außerordentlich stark“, heißt es da. Auf der empirischen | |
Ebene bestätigt sich das an diesem Sonnabend. | |
## Danke fürs Gespräch | |
Prigge und Demirel teilen sich auf – sie nimmt die linke, er die rechte | |
Seite der Karlstraße. Das Haus mit den braunen Kacheln wirkt gepflegt, auf | |
jeder Etage hängt ein Putzplan. Eine Frau mit rosa T-Shirt bleibt abwartend | |
in der Wohnungstür stehen. „Ich mache mir Sorgen um meine Rente“, antwortet | |
sie auf Prigges Frage. „Ihre Rente? Wie alt sind Sie?“ – „Ich bin 40.�… | |
Prigge gerät ein bisschen ins Schwimmen, doziert über Österreich, wo die | |
Renten deutlich höher seien. – „Die Löhne vermutlich auch“, meint die F… | |
Sie entschuldigt sich, sie muss ihre Tochter anziehen. Eine | |
Wahlkampfzeitung nimmt sie. Eine Drei, notiert Prigge. Er hat nicht | |
gefragt, in welchem Beruf die Frau arbeitet. Das mit den 70 Prozent Zuhören | |
will auch gelernt sein. | |
Und dann treffen sie doch noch eine Fast-Vier. „Ich bin Jasper aus Essen“, | |
stellt sich Prigge an der Wohnungstür vor. Die junge Frau reicht ihm | |
lächelnd die Hand. Sie arbeitet als OP-Schwester, die Mutter als | |
Altenpflegerin. „Sie sind zu zweit auf einer Station, in der Spätschicht, | |
das ist nicht gut. Da muss man die Leute waschen, die Sachen wechseln – | |
meine Mutter sagt, das ist sehr anstrengend.“ | |
Prigge lädt sie zum sozialen Stammtisch ein. „Da überlegen wir uns, was | |
man machen kann, um die Situation zu verbessern.“ Und gibt ihr gleich noch | |
die Wahlkampfzeitung mit der Kontaktadresse des Linkspartei-Büros. | |
„Vielleicht sehen wir uns beim Stammtisch. Danke fürs Gespräch.“ | |
11 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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