| # taz.de -- Die Wahrheit: Unterwegs im Streichelzoo des Ichs | |
| > Die Wahrheit-Reportage: Selfism in den USA, ein politischer Trend im | |
| > Aufwind, dessen Anhänger jede Reglementierung ablehnen. | |
| Bild: Die Freiheit nehm' ich mir: Samuel Wilkerson ist selbst der Nachtwächter… | |
| Die meisten Trends – Amokläufe, Übergewicht, Politikverdrossenheit – werd… | |
| in Amerika geboren und springen erst nach einer gewissen Zeit auf Europa | |
| über. Und ein neuer Trend – in den USA längst Subkultur – steht in den | |
| Startlöchern: Selfism. | |
| Am Flughafen Dallas beginnt unsere kurze Reise durch den Süden der USA über | |
| Straßen, die schon bessere Tage gesehen haben. Vorbei an endlosen | |
| Sojafeldern und verschlafenen Kleinstädten führt uns die Interstate 30 nach | |
| Little Rock, der Hauptstadt des Bundesstaates Arkansas, der den Beinamen | |
| The Natural State, Staat im Naturzustand, trägt. Wenige Stunden später | |
| sitzen wir im Wohnzimmer von Samuel Wilkerson, einem Mann, von dem wir mehr | |
| über das Phänomen des Selfism erfahren möchten. | |
| Über dem Kamin steht das Foto seiner Kinder beim ersten gemeinsamen | |
| Basejump, daneben sind Einschulungsfotos der Enkel und Bilder von seiner | |
| Frau und ihm beim Bärenringen im Urlaub am Lake Ontario vor fünf Jahren. | |
| Sie waren im Herbst dort, wenn die sich langsam bunt färbenden Blätter eine | |
| ganz besondere Kulisse für den Kampf Mensch gegen Bestie abgeben. | |
| ## „No risk, no fun“ | |
| Den Kontakt zu Wilkerson, einem gedrungenen Mann mit sichtbar | |
| blutunterlaufenen Augen, der fast immer eine Kappe mit dem Schriftzug „No | |
| risk, no fun“ darauf und ein nicht ganz sauberes Karohemd trägt, hatte uns | |
| eine ehemalige Kollegin besorgt. | |
| Wilkersons Haus befindet sich in Camden, Arkansas; mit der US-Flagge im | |
| Vorgarten und dem Humvee in der Einfahrt könnte es aber genauso gut in | |
| jedem anderen Ort des ländlichen Amerika zu finden sein. | |
| Als wir bei Wilkerson ankommen, ist er gerade damit beschäftigt, seinen | |
| bemerkenswert gepflegten Rasen zu mähen. „Letztes Jahr habe ich ein wenig | |
| Uran aus dem verwitterten Atomkraftwerk nebenan mitgenommen und hier | |
| verteilt. Seitdem behält der Rasen sogar nachts dieses satte Grün“, erklärt | |
| er uns mit dünner Stimme. | |
| Der Drang nach absoluter Freiheit, die Ablehnung jedweder Reglementierung, | |
| ist der Grund für unseren Besuch bei Wilkerson. Wir möchten mit ihm über | |
| Selfism sprechen, eine Graswurzelbewegung, die in letzter Zeit immer mehr | |
| Anhänger findet im Land der großen Freiheit. | |
| ## Ein unerhörter Eingriff | |
| Die Mitglieder der Selfism-Szene lehnen selbst einen Nachtwächterstaat ab. | |
| Alles soll dem Zugriff des Staates entzogen werden. Dazu zählen auch | |
| Atomwaffenbesitz, Inhaltsstoffe von Nahrungsmitteln und Brustimplantaten | |
| sowie das Recht auf Besitz und Verkauf harter Drogen. Aber auch | |
| Arbeitsschutzgesetze oder grundlegende Sicherheitsstandards sind für | |
| Mitglieder ein unerhörter Eingriff in ihre persönliche Freiheit. Für all | |
| diese Bereiche sollen die mündigen Staatsbürger selbst die Verantwortung | |
| übernehmen, Wilkerson traut ihnen das zu. | |
| Entgegen meiner Erwartung ist Wilkerson jedoch kein Trump-Fan. „Ich habe | |
| Respekt davor, dass er sein Ding gegen alle Widerstände durchzieht, das | |
| schon. Aber ‚America first‘ kann ich nicht unterstützen. Zuerst mal komme | |
| ich, dann meine Familie, meine Stadt. Ob die Mexikaner irgendwem anders den | |
| Job wegnehmen, das ist nicht mein Problem.“ Wilkerson ist Chef der lokalen | |
| Selfism-Aktivistengruppe. „Einmal im Monat versuchen wir, uns bei | |
| Mitgliedern zu Hause zu treffen, doch nur selten erscheinen alle. Die | |
| lassen sich eben ungern vorschreiben, was sie wann zu tun und zu lassen | |
| haben“, erklärt uns Wilkerson voller Stolz. | |
| Wenn man diesem Mann zuhört, wie er da auf seiner Couch aufgrund der | |
| asbestgetäfelten Wände gemütlich vor sich hin hustet, ist es nicht schwer, | |
| Sympathien für ihn zu empfinden. Denn bis auf seine für prüde Europäer | |
| etwas wagemutig wirkenden Ansichten zu Liberalisierung ist Wilkerson ein | |
| freundlicher Mann und liebevoller Familienvater. | |
| ## Auf Sicherheit verzichten | |
| Wir lassen den Abend ruhig ausklingen, am nächsten Tag will mich Wilkerson | |
| mit zu einem Treffen der Selfism-Bewegung mitnehmen. Er raucht auf der | |
| Veranda noch ein paar Jeffreys, Joints versetzt mit Opium, Heroin und | |
| Peyote-Kaktus, wir bleiben für heute lieber bei einer Flasche | |
| Schwarzgebranntem. Gegen Mitternacht fahren wir in unser Hotel und auch der | |
| mittlerweile bewusstlose Wilkerson wird von seiner Frau ins Bett | |
| geschleift. | |
| Am folgenden Tag nimmt mich Wilkerson wie versprochen mit zu den Selfern, | |
| manchmal auch als Selfies verhöhnt; so nennen sich die Anhänger des | |
| Selfism. Das heutige Treffen findet im ausgebauten Dachboden von Franklin | |
| statt, ein Mitstreiter der ersten Stunde. Aufgrund von nicht eingehaltenen | |
| Bauvorschriften knackt der dünne Holzboden beim Darüberlaufen bedrohlich, | |
| woran sich aber niemand zu stören scheint. Auch als Berry mitten im | |
| Gespräch durch die Decke kracht, verzieht keiner eine Miene. Wer Freiheit | |
| will, der müsse nun mal auf Sicherheit verzichten, da sind sich alle einig. | |
| Von unten lässt Berry ein zustimmendes Röcheln vernehmen. | |
| Im Verlauf des Treffens berichten die Mitglieder von erfolgreich gelebter | |
| Freiheit aber auch von Rückschlägen. Ein Mitglied erzählt von seinem | |
| letzten One-Night-Stand: „Ich habe meiner Partnerin von vornherein gesagt, | |
| dass ich Selfer-Sex – Sex ohne Kondom unter Verheimlichung der eigenen | |
| Geschlechtskrankheiten („cuz that’s nobody elses business“) – praktizie… | |
| Die hat aber wohl Safer Sex verstanden. Ihre wütenden Anrufe einige Wochen | |
| später, weil ich sie offenbar mit einem ganzen Alphabet an Hepatitis | |
| angesteckt habe, empfand ich als diskriminierend.“ Zustimmendes Nicken der | |
| anderen, jeder von ihnen kennt solche Geschichten. | |
| ## Eine Verschwörung „von denen da oben“ | |
| Nach dem Treffen fahren wir mit zu Berry, der uns zum Essen eingeladen hat. | |
| Die Strecke zu seinem Haus legt er auf der linken Straßenseite zurück, als | |
| ehemaliger Brite fühle er sich so einfach wohler. | |
| Obwohl der Hasenbraten von Berrys Frau Martha ausgesprochen verlockend | |
| duftet, lehnen wir lieber ab. Denn Berry hat das Tier im Streichelzoo mit | |
| alter Bleimunition selbst geschossen und auch die Kosten für den | |
| Fleischbeschauer gespart, der sowieso nur eine Verschwörung „von denen da | |
| oben“ sei, um ihm das Jagen und die Waffen zu verbieten. | |
| Während wir essen und die anderen ab und an dezent Bleikugeln oder Stücke | |
| eines Zahns in die bereitliegenden Servietten spucken, frage ich Wilkerson, | |
| ob er seine Vorstellungen von Freiheit denn auch anderen aufzwingen würde. | |
| „Natürlich“, antwortet er erstaunt, „wofür gibt es denn Gesetze?“ | |
| 10 Apr 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Ernst Jordan | |
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