# taz.de -- Die Wahrheit: Im jungen Alter | |
> Unter ungünstigen geografischen Bedingungen zeigen auch sehr junge | |
> Menschen plötzlich Symptome galoppierender Frühvergreisung. | |
Bild: Die letzten Rituale aus einer fernen Zeit prägen Straßenumzüge | |
Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an, so sang Udo Jürgens, der seine | |
Karriere selbst im zarten Alter von 16 startete. Doch damit das Leben | |
anfangen kann, muss es irgendwann zwischen der Geburt und dem 66. | |
Geburtstag erst einmal enden. In meinem Fall geschah das irgendwann vor dem | |
23. Lebensjahr. | |
Von sozialen Normen getrieben, besuchte ich zu dieser Zeit Freunde in der | |
unsympathischsten Stadt Deutschlands – Frankfurt am Main. Am Bahnhof | |
angekommen, musste ich feststellen, dass Obdachlose eine feste Belagerung | |
sämtlicher Ausgänge aufrechterhielten; Kara Mustafa Pascha wäre stolz | |
gewesen. Schließlich gelang es mir jedoch unter Aufbietung meines | |
Kleingeldes, eine Bresche in diese Menschenmauer zu schlagen. | |
Jetzt bemerkte ich das erste Anzeichen meiner geistigen Alterung. Dachte | |
ich doch beim Anblick eines in die Jahre gekommenen Obdachlosen: „Ach Kind, | |
wärst du halt Bankkaufmann geworden.“ Dem eh schon bemitleidenswerten Mann | |
ein Schicksal als Bankangestellter zu wünschen – wann war ich so zynisch | |
geworden? | |
Noch Stunden später stieß mir jener Vorfall bitter wie das billige Speed | |
von früher auf. Doch selbst das hatte ich ja mittlerweile aus | |
Gesundheitsbewusstsein und Leistungsanspruch gegen Ritalin getauscht. | |
Am Freundesziel angekommen, verabschiedete ich mich nach kurzer Begrüßung | |
ins Gästezimmer, da fünf Stunden im warmen Zug sitzen und aus dem Fenster | |
starren offenbar „anstrengend“ waren und ich „ein kleines Päuschen“ | |
brauchte; Ausdrücke, für die ich mich noch heute schäme. | |
Am Abend ging es dann zum Konzert ins alte Polizeigefängnis Klapperfeld. | |
Richtig Lust hatte ich nicht, könnte ich doch in einem der so behaglich | |
glitzernden Bankentürme irgendeine Bilanz prüfen und nach einem langen Tag | |
neben meinem Bankkonto einschlummern. Im Gefängnis angekommen, hatte ich | |
bereits die meisten Infotafeln gelesen, bevor ich das erste Bier in die | |
Hand kriegte. Alle anderen schienen die Tafeln bereits zu kennen, zumindest | |
unterhielten sie sich und tranken, statt ihren Wissensdurst zu stillen. Das | |
konnte ja leider wirklich noch heiter werden. | |
Bezüglich des Konzertes hatte mein Freund von „Hardcore“ gesprochen, ein | |
schneller Techno, der mir durch die Routerklänge zu Beginn des Internets | |
noch gut vertraut war. Leider war der Tenor des Abends Hardcore Punk und so | |
fand ich mich alsbald in einer Menge sich gegenseitig brutal hin- und her | |
stoßender Leiber wieder. So etwas kannte ich sonst nur von Sonderaktionen | |
bei Aldi. Zwar fiel das Wort destruction, allgemein waren die Liedtexte | |
jedoch unverständlich, weil durchweg gegrölt. Mein erster Gedanke zur Band | |
war: die armen Nachbarn. Der zweite, als Vater: Gebt dem armen Jungen doch | |
eine Halsschmerztablette. Dabei habe ich bis heute keine Kinder. | |
Gegen vier verließen wir das Gefängnis, wobei mich Schuldgefühle | |
beschlichen, da wir dann schwarzfuhren. Gott sei Dank war am nächsten Tag | |
nur ein Museumsbesuch geplant. | |
10 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Ernst Jordan | |
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