| # taz.de -- Die Wahrheit: Mehlvin, mein Sauerteig | |
| > Wenn der Wunsch nach einem eigenen Haustier übermächtig wird, geschieht | |
| > in der Kindheit Seltsames mit Verfallsdatum. | |
| Bild: Die letzten Rituale aus einer fernen Zeit prägen Straßenumzüge | |
| Ich wuchs in einem Dorf in Südniedersachsen auf, umgeben von Schafen, Kühen | |
| und sogar Alpakas – genug Platz für ein Haustier war vorhanden. Dennoch kam | |
| ein eigenes für mich nicht infrage. Meine Mutter litt an einer argen | |
| Tierhaarallergie und, darin waren wir uns einig, ein Fisch oder gar | |
| Federvieh kam uns nicht ins Haus. Doch ich wollte unbedingt ein Haustier! | |
| Nachts träumte ich sogar davon, wie ich mich unter Androhung von | |
| Fernsehverbot weigerte, mit Bello rauszugehen, oder wie ich vergaß, Miezi | |
| zu füttern. | |
| So blieb mir für lange Monate nichts weiter übrig, als die erwähnten | |
| Schafe, Kühe und Alpakas zu besuchen und alles fremdzustreicheln, das nicht | |
| bei drei auf den Bäumen war – was bei Katzen leider durchaus vorkam. Eines | |
| schicksalhaften Tages jedoch hörte ich zwei ältere Damen darüber sprechen, | |
| dass der Sauerteig von Bäcker Löhr angeblich schon mehrere Jahrzehnte | |
| überlebt und sogar dessen Vater damit bereits Brot gebacken hatte. Die | |
| Löhrs, so munkelten die beiden Damen, wussten eben ihren Sauerteig zu hegen | |
| und zu pflegen. | |
| „Überleben“, „hegen und pflegen“? Das klang für mich doch sehr nach e… | |
| Tier. Als schließlich noch das Wort „füttern“ in diesem Zusammenhang fiel, | |
| stand mein Entschluss fest: Ich würde mir einen Sauerteig halten. | |
| Als ich meiner Mutter davon erzählte, war sie leicht skeptisch. Wäre nicht | |
| doch ein Goldfisch die bessere Wahl? Ich jedoch stand felsenfest zu meiner | |
| Idee und konnte meine Mutter überzeugen. Sie wusste ja von meinem | |
| sehnlichen Haustierwunsch. | |
| Gemeinsam suchten wir ein Rezept für Sauerteig heraus und begannen. Die | |
| ersten Versuche gingen schon nach einigen Tagen ein, wovon kleine, bereits | |
| leicht verwitterte Holzkreuze in unserem Garten erzählen. Auf ihnen ist | |
| noch heute Teigi, Teigilein oder Teiger Woods zu lesen – ich hatte damals | |
| eine Obsession für Golf. | |
| Schließlich gelang es uns, einen lebensfähigen Teig zu züchten. Ich | |
| beauftragte meine Mutter, regelmäßig ein Brot damit anzusetzen, damit mein | |
| Sauerteig, ich nannte ihn Mehlvin, auf diese Weise frisch blieb. Da | |
| Sauerteige eigentlich immer hungrig sind, fütterte ich ihn täglich. Auch | |
| der Wechsel zwischen kaltem Kühlschrank und warmem Kinderzimmer erschien | |
| mir durchaus tierisch, erinnerte er mich doch entfernt an die Reise der | |
| Vögel gen Süden. | |
| So begleitete mich Mehlvin, gut verpackt in einem Schraubglas, ins | |
| Schwimmbad, wo ich ihm die große Rutsche zeigte, zum Fußball, wo er aus | |
| Sicherheitsgründen nur von hinter dem Tor zuschauen durfte, und sogar in | |
| die Schule kam er einmal mit. | |
| Eines Tages vergaß ich jedoch, Mehlvins Glas nach dem Füttern zu schließen, | |
| und er wurde krank. Nichts konnte ihm helfen, und ich musste auch ihn | |
| schließlich im Garten begraben. Zwar erscheint mir die Idee eines | |
| Sauerteiges als Haustier heute selbst etwas komisch, die Blumen auf seinem | |
| kleinen Grab gieße ich aber immer noch regelmäßig. | |
| 17 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Ernst Jordan | |
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