# taz.de -- Dokfilm über russischen Aktionskünstler: Nackter Mann als rohes Ei | |
> Irene Langemann hat einen Dokumentarfilm über Pjotr Pawlenski gedreht. | |
> Der russische Aktionskünstler zeigt sich darin kompromisslos anarchisch. | |
Bild: Pjotr Pawlenski bei seiner Aktion „Fixierung“ 2014 auf dem Roten Platz | |
Sie könnten nicht verschiedener sein, die zwei Künstler, die als | |
Politaktivisten bekannt sind. Der berühmtere der beiden, Ai Weiwei, ist | |
extrem kommunikativ, kommentiert das Zeitgeschehen, dazu mischt sich in | |
aktuelle Skandale in China und der Welt ein und Skandal − twittert. Das ist | |
bei Pjotr Pawlenski undenkbar. Das Bild von ihm, das 2012 um die Welt ging, | |
zeigt ihn mit zugenähtem Mund. Zehn Stiche mit rotem Faden, „Stitch“ hieß | |
die Aktion mit der er sich mit den verurteilten Mitglieder von „Pussy Riot | |
solidarisch erklärte, und mit allen Russen, denen Putin die | |
Meinungsfreiheit verwehrte. | |
Arbeitet Ai Weiwei installativ und mit Objekten, arbeitet Pawlensk allein | |
mit seinem Körper. Ist Ai Weiwei kompromisslos in seinem Kampf für | |
Menschenrechte und gegen Korruption, ist Pawlenski absolut radikal im | |
Bloßstellen der Mechanik der Macht der russischen Despotie unter Putin. | |
Beide sind sie große Verführer. Dass Ai Weiwei Menschen aufrüttelt ist | |
bekannt. Auch Pjotr Pawlenski gelingt das, wie der definitiv sehenswerte | |
Dokumentarfilm „Pawlenski – der Mensch und die Macht“ von Irene Langemann | |
deutlich macht, der jetzt in die Kinos kommt. | |
Pawlenskis Charisma liegt in seiner asketischen, hohlwangigen Schönheit, | |
die an Beuys erinnert, liegt in seinem Schweigen und seiner Passivität | |
während seiner Aktionen, bei denen er meist nur da liegt, steht oder sitzt. | |
Die Polizisten behandeln den nackten Mann wie ein rohes Ei. Der Psychiater | |
möchte ihn nicht für unzurechnungsfähig erklären und der | |
Untersuchungsrichter verweigert das Urteil und quittiert daher seinen Job. | |
Sie und alle anderen rührt vor allem, dass Pawlenskis Kunst ihren | |
Ausgangspunkt bei einem Phänomen nimmt, das den Menschen nur allzu bekannt | |
ist: Angst. Angst in Russland. Also Angst vor dem Auffallen, der | |
Marginalisierung, der Abweichung und Dissidenz, der Verhaftung, dem | |
Schmerz. Es trifft sie, dass er diese Angst offen legt, die in ihrer aller | |
Leben permanent gegenwärtig ist. Und sofern sie das nicht wütend macht – | |
tatsächlich eher selten − fasziniert es sie, dass er sich in seinen | |
Aktionen frei von dieser Angst zeigt. | |
## Nackt im Stacheldraht-Konkon | |
Nackt legt er sich in einem Stacheldraht-Konkon vor das Petersburger | |
Stadtparlament („Tierkadaver“), treibt einen zehn Zentimeter langen Nagel | |
durch seine Hoden und nagelt sich so auf dem Roten Platz fest | |
(„Fixierung“), 2014 zündet er in einem Akt der Solidarität mit der Ukraine | |
Autoreifen auf der Maly-Konjuschenny-Brücke in Sankt Petersburg an | |
(„Freiheit“), wo er damals mit seiner Lebensgefährtin und seinen zwei | |
Töchtern lebte. | |
Später schneidet er sich nackt auf der Mauer einer psychiatrischen Anstalt | |
in Moskauer sitzend, ein Ohrläppchen ab („Abtrennung“), um schließlich die | |
Eingangstür zum Hauptquartier des Inlandgeheimdienstes FSB anzuzünden | |
(„Bedrohung“). Das war dann definitiv eine Situation, die „nach den | |
geltenden Regeln eines Ortes unter gar keinen Umständen entstehen dürfte“, | |
wie er sagt. | |
Doch darum geht es ihm in seinen autoaggressiven Performances, mit denen er | |
neue, bis dahin unbekannte Lagen schafft und damit gute Kunst. Denn sie | |
zeichnet aus, dass sie neues Wissen provoziert: etwa darüber, wie das | |
System seine Anhänger in den Wahnsinn treibt. | |
Das Anzünden der Tür der Lubjanka, dem Sitz des FSB, erklärten doch | |
tatsächlich die Ankläger, sei kein simpler Akt des Vandalismus, weil es | |
sich bei der Lubjanka um ein Kulturdenkmal handle. Schließlich seien dort | |
während der 1930er und 1940er Jahre bedeutende Menschen eingekerkert worden | |
und gestorben wie der Regisseur Wsewolod Meyerhold und der Schriftsteller | |
Issak Babel. | |
## Verlust des Hauptdarstellers | |
„Bedrohung“ war die vorerst letzte Aktion von Pawlenski in Russland, da er | |
sofort verhaftet und angeklagt wurde. Gleichzeitig war sie die erste, die | |
Irene Langemann dokumentierte. Ihr kam also gleich zu Beginn ihres Films | |
der Hauptdarsteller abhanden. Nur jeweils drei Minuten konnte sie ihn an | |
den Prozesstagen sprechen, ansonsten musste sie sich mit Briefkontakten | |
behelfen, mit Gesprächen mit dem Moskauer Aktionskünstler Oleg Kulik, der | |
an einer Plastik Pawlenskis arbeitete und der Künstlerin Lena Hades, deren | |
Porträtzeichnungen dem inhaftierten Künstler zur Anwesenheit vor der Kamer | |
verhalfen. | |
Sehr klug war die Entscheidung der Filmemacherin, bekannte Verhörprotokolle | |
als Schattentheater von russischen Schauspielern nachzuspielen. Eine | |
wesentliche Rolle im Film kommt notwendigerweise Pawlenskis Lebensgefährtin | |
Oksana Schalygina zu, die sich auch mal mit der Axt zwei Glieder ihres | |
kleinen Fingers abhackte, um Pawlenskis Anforderungen an Wahrhaftigkeit | |
nachzukommen. | |
Weil das Paar seine beiden schulpflichtigen Töchter keinesfalls dem Staat | |
überlassen kann, unterrichtet sie sie selbst. Hier zeigt der Film Pawlenski | |
und Schalygina ein einziges Mal angreifbar. Ansonsten ist Langemann, 1959 | |
in Issilkul, Sibirien, geboren, in Moskau zur Schauspielerin, Regisseurin | |
und Theaterautorin ausgebildet und 1990 nach Deutschland ausgewandert, | |
entschieden parteiisch. | |
Dass Dissenz zwischen Pjotr Pawlenski und der in New York ansässigen Human | |
Rights Foundation (HRF) dazu führte, dass die Organisation ihm den von ihr | |
verliehenen Václav Havel Prize for Creative Dissent wieder aberkannte, wäre | |
vielleicht doch der Rede wert gewesen. Der Vorgang wirft einmal mehr Licht | |
auf die entschiedene Radikalität Pawlenskis, die der Film nicht in letzter | |
Konsequenz ausleuchtet. | |
## Verteidigung der „Fernöstlichen Partisanen“ | |
Der Künstler wollte nämlich sein Preisgeld einer Stiftung zukommen lassen, | |
die die Verteidigung der Anarchistengruppe „Fernöstliche Partisanen“ | |
organisiert. Sie wurde wegen besonders grausamer Polizistenmorden | |
verurteilt. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass mit Paypal-Gründer Peter | |
Thiel ein ganz besonderer Konservativer und radikaler Staatsverächter einer | |
der Hauptsponsoren des Preises ist. | |
Ist also Pjotr Pawlenskis Misstrauen gegen jegliche politischen, | |
ökonomischen, dabei auch gerne mal humanitär maskierten Herrschaftsdiskurse | |
berechtigt? Weil Langemann sich ausschließlich auf die Performances und | |
ihre Interpretation in den anhängenden Prozessen oder durch die anhängenden | |
Bewunderer konzentriert, liefert sie am Ende nur ein eindeutiges | |
Heldenporträt. Pawlenski braucht und verdient aber mehr. | |
Er ist inzwischen mit seiner Familie nach Paris emigriert und hat dort um | |
Asyl ersucht, aufgrund einer Klage der Schauspielerin am regimekritischen | |
Dokumentartheater teatr.doc, Anastasia Slonina, die ihn und seine Frau des | |
sexuellen Übergriffs bezichtigt. Pawlenski und Schalygina bestreiten die | |
Vorwürfe. Der Verrat im 20. Jahrhundert (Margret Boveri), für den die | |
Lubjanka als Schlachthaus steht, er scheint sich im 21. Jahrhundert nahtlos | |
fortzusetzen. | |
Am Ende des Films aber zeigt sich auf ganz andere, glückliche Art die Macht | |
der Kunst und des Kinos, beider ungebrochene Vorstellungskraft. Denn da | |
montiert die Regisseurin Oleg Kuliks kleine Skulptur des angenagelten | |
Pawlenski so vor die Lubjanka, dass sie nur als Denkmal, also | |
hochironisches Mahnmal, wahrgenommen werden kann. | |
16 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Brigitte Werneburg | |
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