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# taz.de -- Kolumne Lügenleser: Ohne Scheu auf der Buchmesse
> Auf der Messe Leipzig präsentieren sie sich breit und ohne Scheu.
> Offenbar gibt es hier keine natürlichen Feinde, derer man sich erwehren
> müsste.
Bild: Gähnende Leere bei „Judo mit Putin“
Langsam ranpirschen lautet die Devise. Jetzt bloß nicht zu laut atmen. Der
Wind kommt von Norden. Ideale Voraussetzungen, um diese raren Exemplare in
freier Wildbahn aufzuspüren. Nur noch wenige Meter, dann müsste ich sie
sehen können. Inmitten des Bücherdschungels auf der Leipziger Buchmesse
haben sie sich breitgemacht, ganz so, als wäre es das Normalste der Welt.
Die Lügenleser. Endlich, nach mehr als einem Jahr der Fernstudie, werde ich
sie kennenlernen. Selten zuvor war ich dem Virusherd so nah. Ein Mundschutz
wäre nun ratsam.
Jetzt ist es so weit. Und siehe da: Die Spezies der Lügenleser ist alles
andere als scheu. Sie haben sogar das größte Wasserloch hier, bei diesem
Treffen der Lesenden und Bücherwürmer. Einige Meter weiter, bei dem extra
für das Werk „Judo mit Putin“ errichteten Stand, herrscht hingegen gähnen…
Leere. Anscheinend sind die Putin-Fans aus dem Weltnetz nicht sonderlich
sportbegeistert. Bei Compact hingegen, dem Sammelbecken für gescheiterte
Schülerlotsen, notorische Klassensprecher und ambitionierte Hausmeister,
herrscht reges Treiben. Offenbar hat man hier keine natürlichen Feinde,
deren man sich erwehren müsste.
Doch dann, bei genauerem Hinsehen, fällt noch etwas Weiteres auf. Die
Gattung der Lügenleser ist alt. Ziemlich alt. Und männlich. Eine
Fortpflanzung erscheint unwahrscheinlich. Lohnt es sich überhaupt, eine
derart vom Verfall bedrohte Art zu attackieren? Ja! Um vereinzelt
herumstreunende Aasgeier wie mich abzuhalten, hat man sich die Dienste
einiger junger Hüpfer gesichert.
Mit ihren Piercings in Nase und Unterlippe und den Tunneln in den Ohren
könnte ein Unwissender sie glatt für Angehörige indigener Urvölker halten,
nur die stumpfen Gesichter und leblosen Augen verraten ihre kleingeistige
Herkunft. Ich möchte ein Foto schießen, das glaubt einem ja sonst niemand.
## Endlich gibt es mal was zu tun
Plötzlich kommt ungeahntes Leben in die Herde. Zwei besonders beleibte
Exemplare stürzen sich auf mich und versuchen, mir meinen als Handy
getarnten Feldstecher abzunehmen. Die Nachwelt soll offenbar nie erfahren,
wer verantwortlich war für die Ausbreitung der Lügenlesergrippe. Einer der
jungen Hüpfer kommt hinzu, er ist ganz aufgeregt, endlich gibt es mal etwas
zu tun.
Um mich herum nun weitere Exemplare, sie tragen Jutebeutel voller
Gratiskugelschreiber mit dem Konterfei einer Politikerin und dem Zusatz
„Terrorists Welcome“ und plustern sich ungefragt auf. Die Wut, die sich
sonst nur auf der heimischen Tastatur mit den alten Kaffeeflecken Bahn
bricht, bekommt der freischaffende Wildhüter nun am eigenen Leib zu spüren.
Es wird gerissen, gerangelt und gezetert, glücklicherweise sind weder
Fackeln noch Heugabeln verfügbar.
Niemand stört sich daran. Hier bin ich der Eindringling, die Lügenleser
sind zur Gewohnheit geworden. In einem Buch, das auf der Buchmesse leider
nirgends zu finden war, heißt es dazu: „Achte auf Deine Gedanken, denn sie
werden Worte. Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen. Achte auf
Deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten.“ Das Buch ist der Talmud.
27 Mar 2017
## AUTOREN
Juri Sternburg
## TAGS
Lügenleser
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025
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