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# taz.de -- Kommentar Tourismus-Boykott der Türkei: Symbol ohne Durchschlagskr…
> Katja Kipping will das Urlaubsland Türkei boykottieren. Das wird nicht
> viel nützen und außerdem geht es dem Tourismus dort schon schlecht genug.
Bild: Antalya leidet wirtschaftlich schwer unter den Rückgängen im Massentour…
Ausnahmezustand, geplante Verfassungsreform und das Ende der
Pressefreiheit: Recep Tayyip Erdoğan will die Türkei in eine Diktatur
verwandeln. Katja Kipping, Vorsitzende der Linkspartei, bringt daher eine
neue, alte Idee ins Spiel. „Wenn die Bundesregierung mit dem Diktator
kuschelt, dann sollten wir über einen Tourismus-Boykott nachdenken“, findet
Kipping.
Die Türkei sei ein wunderschönes Land mit wunderbaren Menschen, betont die
Linkspartei-Chefin, „aber ohne Erdoğan wäre sie noch schöner.“ Es gehe i…
nicht darum, die Bevölkerung in der Türkei, die am Tourismus verdiene, zu
schädigen, betont Kipping. Der Verzicht auf einen Türkeiurlaub wäre jedoch
auch ein Zeichen für Demokratie und Menschenrechte an die Adresse von
Erdoğan. „Am Badestrand im Ausnahmezustand – wer kann sich da schon
entspannen?“, so die Linken-Politikerin.
Neu ist die Idee nicht, schon 1991 forderte die Gesellschaft für bedrohte
Völker einen Tourismus-Boykott gegen die Türkei wegen ihrer Kurdenpolitik.
Das bekannteste Beispiel war jedoch der Boykottaufruf gegen Südafrika
während der Zeit der Apartheid. Tourismus-Boykotts wurden auch gegen die
Militärregime in Argentinien und Chile und zuletzt für Birma diskutiert.
Ein Boykott wird immer dann populär, wenn die Untiefen der Politik eines
Landes, die Menschenrechtsverletzungen, unerträglich werden. Es ist der
Reflex bewusster Konsumenten auf Urlaubsländer mit undemokratischer
Schlagseite. Als die AfD 2016 auf Usedom Spitzenwerte erzielte, wollten
viele Menschen selbst dorthin nicht mehr reisen.
## Lange Tradition, wenig Wirkung
Menschenrechtsverletzungen werden zwar von vielen Touristen wahrgenommen
und kritisiert, doch die Urlaubsentscheidung beeinflussen sie kaum. Nach
politischen, moralischen oder ökologischen Gesichtspunkten entscheidet nur
eine Minderheit.
Nach Untersuchen der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen schlägt der
Preis allemal die Moral. Ein gutes Preis-Leistungsverhältnis ist für 77
Prozent der deutschen Urlauber besonders wichtig. Die Krise in der Türkei
und die damit verbundenen fallenden Preise werden so manchen
Schnäppchenjäger aktivieren.
Weitere Faktoren, die bei der Entscheidung ganz oben stehen: eine 'schöne
Landschaft’, 'sonniges, warmes Wetter’, 'eine gastfreundliche Bevölkerung�…
sowie 'passende Unterkünfte und „persönliche Sicherheit“. In diesem Punkt
reagiert der Tourismus äußerst sensibel.
## Geschäft bricht ohnehin ein
Im Juli 2016 war ein Putschversuch in der Türkei gescheitert. Zudem
erschütterten mehrere Terroranschläge das Land, unter anderem ein
Selbstmordanschlag auf deutsche Touristen in Istanbul im Januar 2016 sowie
ein Angriff auf den Istanbuler Atatürk-Flughafen im Juni. Zuletzt tötete
ein Angreifer 39 Menschen in einem Klub in Istanbul in der Silvesternacht.
Deshalb bleiben die Touristen der Türkei auch ganz ohne Boykottaufruf fern.
„Von Kemer im Westen bis Alanya im Osten sind die gesamten 200 Kilometer
schönsten Sandstrands in diesem Jahr eine touristische Katastrophenzone.
Von den 5,2 Millionen russischen Urlaubern, die im letzten Jahr hier die
Strände bevölkerten, ist in diesem Jahr so gut wie keiner gekommen. Aber
auch die Deutschen, 2015 mit 5,5 Millionen noch die größte Gruppe, machen
sich rar“, schreibt Jürgen Gottschlich, Türkei-Korrespondent der taz. Die
Deutschen sind zwar immer noch die größte Gästegruppe, jedoch kamen 2016
rund 30 Prozent weniger als noch im Vorjahr.
## Veranstalter wollen Geld verdienen
Die großen Veranstalter sind derweil der Ansicht, politische Konflikte
hätten nichts mit der Branche zu tun. Ein Aufruf zum Tourismus-Boykott
bleibt aber ein rein symbolischer Akt, wenn die Veranstalter nicht
mitziehen, vor allem für ein Land wie die Türkei, das vom Pauschaltourismus
geprägt ist.
Die Tourismusindustrie entzieht sich mit dem Mantra, Tourismus und Politik
hätten nichts miteinander zu tun, ihrer Verantwortung. Die Industrie will
sich den Ferienspaß nicht verderben lassen und ihre errungen Pfründe,
Strände und Hotels, nicht aufgegeben.
Wie andere Dienstleistungsgewerbe unterliegt der Tourismus den
Gewinn-und-Verlust-Bedingungen industrieller Unternehmen. Wirtschaftsfremde
Gesichtspunkte wie ein politischer Boykott haben keine Bedeutung, zu
versuchen, den industriellen Tourismus auf ein moralisches Podest zu
stellen, ist sinnlos.
## Tausende Arbeitslose
Es stellt sich darüberhinaus die Frage, ob der Boykott des
Wirtschaftssegments Tourismus ausreichen würde, um die türkische Regierung
zur Änderung ihrer Politik zu bewegen. Ein Boykott mag sich ja gegen eine
Diktatur richten, trifft aber die Menschen eines Landes.
Die Tourismusbranche in der Türkei leidet auch ohne Boykott: Ob Hotels,
Taxifahrer oder Souvenirverkäufer – insgesamt sind die Einnahmen aus dem
Tourismus im Jahr 2016 im Vergleich zum Vorjahr um fast 30 Prozent
gesunken. Der Umsatz in der wichtigen Branche betrug nur noch rund 22,1
Milliarden US-Dollar (20,65 Milliarden Euro), wie das Statistikamt Türkstat
mitteilte. Doch während Hotelbesitzer vom Staat Überbrückungskredite
bekommen oder ihre Schulden später zahlen dürfen, bleiben viele Tausende im
Tourismus direkt oder indirekt Beschäftige arbeitslos, weil Hotels und
Clubs nicht öffnen.
Hinzu kommt: Ein Aufruf zum Tourismus-Boykott erreicht am ehesten eine
aufgeklärte, politisch-korrekte Klientel, die ohnehin andere Urlaubsformen
als den industriellen Großtourismus bevorzugt. Dadurch werden gerade
touristische Projekte, die einen nachhaltigen, innovativen Tourismus
betreiben, getroffen: Pensionen, Restaurants, Veranstalter aus dem
touristischen Mittelstand, die sich um neue Ansätze bemühen und deren
Finanzdecke oft dünn ist. Für sie kann eine verpatzte Saison das Ende
bedeuten.
## Reisewarnung statt Boykott
Statt dem großen Tourismus-Boykott wäre ein kleiner ebenfalls symbolischer,
aber sinnvoller Schritt, wenn die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes
durch Hinweise auf die Menschenrechtssituation eines Landes ergänzt würden.
Damit wird Flagge gezeigt.
Zu Recht ist das AA mit diesen Reisewarnungen vorsichtig. Die berechtigen
nicht nur die Urlauber zur kostenlosen Stornierung einer bereits gebuchten
Reise, sie stigmatisieren behördlich autorisiert auch das entsprechende
Land. Die Liste ist lang. Reisewarnungen gelten für Libyen, Syrien,
Somalia, die Zentralafrikanische Republik. Teilwarnungen sind derzeit
ausgesprochen u.a. für: Nigeria, Burkina Faso, Niger, Kongo, Libanon,
Jemen, Südsudan, Philippinen, Ägypten, Kamerun, Algerien, Mali, Ukraine.
Das Ministerium sagt aber nichts Explizites darüber, wie die
Menschenrechtssituation in den Reiseländern aussieht.
Ein solcher Hinweis könnte potenzielle Besucher besser aufklären, und
Staaten, die vom Tourismus profitieren, stärker in die Pflicht nehmen.
Reiseländer fürchten nicht umsonst die Sicherheitshinweise des Auswärtigen
Amtes, denn sie können den schönen Schein touristischer Paradiese durchaus
nachhaltig trüben.
3 Mar 2017
## AUTOREN
Edith Kresta
## TAGS
Reiseland Türkei
Schwerpunkt Türkei
Katja Kipping
Boykott
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Pressefreiheit in der Türkei
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