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# taz.de -- Stigmatisierung der Kinderlosen: Den Braten gerochen
> Gegen die moralische Verurteilung von Kinderlosen setzt die
> „Stern“-Redakteurin Kerstin Herrnkind Erfahrungen einer versteckten
> Frauenfeindlichkeit.
Bild: Die Reproduktion gehört nicht zu den Pflichtveranstaltungen
„Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle? Ich bin eine
Sozialschmarotzerin.“ Wer mit solch krassen Worten in einen Text
einsteigt, ist sauer. Kerstin Herrnkind ist nicht nur sauer, sie fühlt sich
zu Unrecht stigmatisiert: als Kinderlose, die auf Kosten der Gesellschaft
lebt. Sie werde, schreibt sie, als „egoistisch“, „karrieregeil“,
„schamlos“, „asozial“ beschimpft.
Dabei tut sie alles, was die Gesellschaft von ihr erwartet. „Meine
Arbeitswoche hat in der Regel mehr als 40 Stunden. Fast die Hälfte meines
Gehalts überlasse ich dem Staat an Steuern. Selbstredend füttere ich als
angestellte Redakteurin Rentenkasse und Arbeitslosenversicherung“, erklärt
die Stern-Redakteurin in ihrem neuen Buch „Vögeln fürs Vaterland? Nein
Danke!“
Herrnkind, 1965 in Bremen geboren, gehört zu jenen 20 Prozent Frauen in der
Altersklasse zwischen 48 und 58 Jahren, die sich nicht reproduziert haben.
Manche konnten schlichtweg keine Kinder bekommen, anderen fehlte in der
potenziellen Familiengründungsphase der passende Partner, und wiederum
andere haben sich bewusst gegen die Mutterrolle entschieden.
Herrnkind selbst hat sich nicht getraut, Mutter zu werden. Das, was
Millionen vor ihr geborener Frauen selbstverständlich getan haben, erschien
der früheren taz-Redakteurin als zu strapaziös?
So einfach ist das allerdings nicht. Im Gegensatz zu anderen Autorinnen und
Autoren, die mit Stammtischparolen gegen den „Familienfundamentalismus“
wettern, wie beispielsweise Nicole Huber in „Kinderfrei oder Warum Menschen
ohne Nachwuchs keine Sozialschmarotzer sind“, geht es Herrnkind nicht um
eine Sozialneiddebatte, sondern um eine fundamentale Kritik am Frauen- und
Mutterbild in Deutschland. „Die Kritik an Kinderlosen ist eine zutiefst
frauenfeindliche Debatte“, schreibt sie.
## Unzulässige Fragen
Sie listet auf: Frauen dürfen bei Bewerbungsgesprächen zwar nicht mehr
gefragt werden, ob sie Kinder bekommen möchten. Aber sind sie erst einmal
Mutter, legen manche ArbeitgeberInnen ihnen nahe zu kündigen. Andere Mütter
werden in der Firma versetzt und haben fortan einen geringer bewerteten
Arbeitszuschnitt. Zudem mangelt es an Kita- und Hortplätzen.
All das wurde Herrnkind in der Zeit, als sie auf „normalem“ Wege hätte
Kinder bekommen können, klar. Sie hatte Freundinnen, die als Mutter unter
den Strapazen, alle Rollen zu vereinbaren, litten. Sie kannte Frauen, die
gegen Arbeitgeber klagten, weil diese Mütter nach der Elternzeit feuern
wollten. „Ich hatte den Braten gerochen. Wusste aus vielen Erzählungen von
Frauen, dass es nicht leicht ist, Familie und Beruf unter einen Hut zu
kriegen“, schreibt sie.
Nun könnte man ihr vorwerfen, dass das auch Millionen anderer Frauen wissen
– und trotzdem Kinder bekommen. Der Vorteil an Herrnkinds Analyse ist, dass
sie weder postfaktisch noch polemisch eine Kinderlosenfeindlichkeit
postuliert, sondern anhand unzähliger Beispiele und Protokolle die
Frauenfeindlichkeit belegt.
Beispiel Ehegattensplitting: Die Beckers waren eine ganz normale Familie,
mit dem kleinen Unterschied, dass Mutter Reina die vierköpfige Familie
hauptsächlich ernährte. Vater Becker bezog eine kleine Rente, das Paar
zahlte aufgrund des Ehegattensplittings, von dem insbesondere Paare
profitieren, bei denen ein Partner nicht arbeitet, rund 35 Prozent Steuern.
## Erfolglos geklagt
Dann starb der Mann, Reina Becker reduzierte ihre Stelle, weil sie das mit
den kleinen Kindern sonst nicht geschafft hätte. Obwohl sie jetzt weniger
verdiente, sollte sie als Alleinerziehende weitaus mehr Steuern zahlen als
zuvor als Ehefrau. Reina Becker klagte dagegen, aber der Bundesfinanzhof
wies ihren Einwand mit dem Argument zurück: Es sei „von Verfassungs wegen
nicht geboten, verwitwete Elternteile ehelicher Kinder“ in das
„Splitting-Verfahren einzubeziehen“. Kurz: Was unlogisch und ungerecht
erscheint, ist verfassungsrechtlich legitimiert.
Bleibt die Frage nach der Einsamkeit der Kinderlosen im Alter. Herrnkind
versichert, dass sie jede Menge FreundInnen, Nichten und Neffen hat, mit
denen sie ihr Leben teilt. Wer garantiert denn, dass EhepartnerInnen zu
zweit nicht einsam sind?
Herrnkind wird oft gefragt, ob sie es nicht bereue, keine Mutter geworden
zu sein. „Manchmal ja“, antwortet sie dann.
12 Apr 2017
## AUTOREN
Simone Schmollack
## TAGS
Frauen
Stigmatisierung
Kinder
Ehegattensplitting
Mütter
Lesestück Meinung und Analyse
Regretting Motherhood
Schwerpunkt Meta
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