# taz.de -- Besetzung an der Humboldt-Uni in Berlin: Nachtschicht für eine bes… | |
> Seit der Entlassung von Andrej Holm vor drei Wochen wird am Institut für | |
> Sozialwissenschaften protestiert. Doch wofür? Die taz hat dort eine Nacht | |
> verbracht. | |
Bild: Wir sind über Nacht geblieben | |
Donnerstag, drei Uhr morgens im Keller des besetzten Instituts für | |
Sozialwissenschaften. Im Zwielicht der Notausgangsschilder legen sich nach | |
und nach Menschen auf Matratzen, Feldbetten und Isomatten. Etwa ein Dutzend | |
junger Menschen verbringen hier die Nacht miteinander. Rhythmische | |
Schlafgeräusche wechseln sich ab. Flüsternde Kissengespräche sind zu hören. | |
Das leise Summen des voll verkabelten Seminarraums gibt allem eine | |
unnatürliche Stimmung. Es ist drei Wochen her, dass die Besetzung begonnen | |
hat. | |
Sieben Stunden früher. Gerade bringt jemand einen meterhohen, goldgelben | |
Vorhang am Eingang der Universitätsstraße 3b an. Eine ältere Frau fährt | |
rasant mit ihrem Elektrorolli die Straße hoch und biegt zackig ins | |
Institut. Drinnen ist der Infotisch – wie immer – besetzt. Hier sitzt Karl | |
Meier (alle Namen geändert) auf einer Couch und schaut in einen Laptop. Das | |
auffälligste an ihm sind seine blauen Haare. Dennoch ist er ein | |
unauffälliger Typ. | |
Er studiert soziale Arbeit in einer anderen Stadt. In Berlin ist er für das | |
Praxissemester bei einer Obdachloseneinrichtung. Meier schläft im Institut, | |
steht morgens gegen 7 Uhr auf und geht zur Arbeit. Täglich. Um etwa 15 Uhr | |
kommt er wieder und beteiligt sich an der Organisation. Meier sieht in der | |
Besetzung Prinzipien des Anarchismus wie Selbstverwaltung verwirklicht. | |
„Diese Art der Selbstverwaltung ist für mich auch gesellschaftlich | |
vorstellbar“, sagt Meier. Doch im Moment fehle dafür das Bewusstsein. | |
„Dagegen machen wir was. Es gibt eine Menge Workshops darüber wie die | |
Gesellschaft aussehen könnte. Hier findet Politisierung statt.“ Während der | |
Anarchist Meier spricht, blickt Karl Marx streng in den Raum. Die 20 | |
Zentimeter große Büste ist eine Spendenbüchse. Irgendwann kommt jemand | |
vorbei und holt die Spenden raus: ein paar Münzen. Und etwa zwei Gramm | |
Gras. | |
## Fünf Kilo Penne | |
Im Hauptraum ist gegen 22 Uhr viel los. Nach langem Warten sind die fünf | |
Kilo Penne mit Tomatensoße endlich fertig. Es riecht nach Oliven. Wer nicht | |
isst, arbeitet. Aus einer Ecke sind immer und immer wieder die gleichen | |
Takte eines Lieds von The Prodigy zu hören. Jemand schneidet gerade ein | |
Mobilisierungsvideo. | |
Auf der Couch, auf dem gerade noch ältere Männer ein Würfelspiel gespielt | |
haben, sitzen Susanne Lösch und Alaska Riebmann. Sie sind unterschiedlicher | |
Meinung was die politische Bedeutung der Besetzung betrifft. „Ich würde | |
mich freuen, wenn ich nicht an den Stadtrand gedrängt werde und es weniger | |
Obdachlose gäbe. Ich glaube nicht, dass wir die Macht haben auf politischer | |
Ebene etwas zu verändern“, sagt Lösch. Die 21-Jährige hat hier erlebt, dass | |
Leben im Kollektiv möglich ist. | |
Riebmann ist 18 Jahre alt und hat schon mit ihren Eltern in einem besetzten | |
Haus gelebt. Sie sieht das Ganze anders: „Ja, das Persönlichkeitsformende | |
spielt während der Besetzung eine wichtige Rolle. Aber sie ist definitiv | |
ein starkes politisches Druckmittel. Weniger Gentrifizierung, das werden | |
wir hier sicher nicht erreichen. Aber das hier kann und wird einen großen | |
Stein ins Rollen bringen. Aufgrund unserer Vernetzung auch nach außen hin | |
zu den Mietinitiativen.“ | |
Im Presseraum im Keller sind ganze Wände vollgehängt mit Presseartikeln | |
über die Besetzung. Unter „Negative Berichterstattung“ neben dem | |
Tagesspiegel auch ein Artikel der taz. Im Artikel werden die Besetzer*innen | |
als Mob bezeichnet und verglichen mit Pegida. „Danke taz!“ steht daneben. | |
## Nachtplenum | |
Gegen Mitternacht findet das Nachtplenum statt. Auch drei Wochen nach | |
Beginn der Besetzung sind heute Menschen zum ersten Mal hier. Ihnen wird | |
das Awareness-Konzept erklärt: Es gibt immer zwei Menschen die da sind, | |
wenn sich irgendwer unwohl fühlt, reden will – oder wenn es Übergriffe | |
gibt. | |
Vetter Carlo spricht gerne über Wirtschaft. Er studiert ja auch | |
Volkswirtschaftslehre. Carlo ist 28, seine Kleidung fällt gemütlich aus: | |
Kapuzenpulli, Jogginghose und Schlappen. Carlo verbringt die meisten Nächte | |
hier. Aber eigentlich wohnt er mit seiner Mutter in einer ehemaligen | |
Sozialwohnung. Die wurde privatisiert. Die Stadt wollte sparen. „Das ist | |
eine Ideologie, dass der Staat so funktionieren soll wie ein Haushalt,“ | |
sagt Carlo. | |
„Essenzielle Grundbedürfnisse wie wohnen darf man nicht dem Markt | |
überlassen. Der setzt die Interessen der Stärkeren durch.“ Auch wenn er die | |
politischen Möglichkeiten der Besetzung begrenzt sieht, glaubt er etwas zu | |
bewirken: „Wenn es uns nicht gäbe, gäbe es nicht einmal die Debatte. Auch | |
wenn du scheiterst, kannst du sagen – du hast es probiert.“ | |
Um etwa 3.30 Uhr wird es sehr ruhig. Im Hauptraum ist der gerade noch | |
belebte Sesselkreis sich selbst überlassen. Verwaiste Turnschuhe leisten | |
einem Skatebord Gesellschaft. Und irgendwo im Hintergrund: immer noch das | |
gleiche Prodigy-Lied. Nicht alle sind schlafen gegangen. | |
## Besetzung als Selbstzweck | |
Auf den Toilettenwänden findet sich die politische Debatte von drei Wochen | |
Besetzung wieder. Die Causa Holm ist nur ein Thema von vielen. Die | |
Besetzung hat ihre eigene Dynamik entwickelt. Ein Spruch in der ersten | |
Kabine der All-Gender-Toilette bringt es auf den Punkt: „Besetzung ist | |
Selbstzweck, Inhalte sind Beiwerk.“ | |
Der Schlaf in dieser Nacht hält nur zwei kurze Träume lang. Dämmriges Licht | |
scheint durch die Luke, die zur Straße führt. Das erste, was zu sehen ist, | |
ist Meier, der sich fertig macht, um zur Arbeit zu gehen. Oben macht jemand | |
gerade neuen Kaffee. Der von letzter Nacht ist weggetrunken. | |
10 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Imre Withalm | |
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und entlässt ihn. Anders wäre es gekommen, hätte er Bedauern gezeigt. |