# taz.de -- Debatte Brexit: Der Selbstbetrug der EU | |
> Nicht Großbritannien, sondern die Europäische Union ist bei den | |
> Brexit-Gesprächen der Bittsteller. Aber die will nicht darüber reden. | |
Bild: Momentan sieht es eigentlich gar nicht so trübe aus für Großbritannien | |
Es wird ernst mit dem Brexit. Mit einer Dreiviertelmehrheit hat das | |
britische Unterhaus diese Woche die Einleitung der Austrittsverhandlungen | |
gebilligt, die Regierung hat ihre Ziele in einem Weißbuch dargelegt. | |
Höchste Zeit, mit einigen Mythen und Missverständnissen aufzuräumen, die | |
den Konsens der Medienöffentlichkeit in Deutschland und der EU bis heute | |
prägen und ein Verständnis der Lage behindern. | |
Missverständnis eins: Verlogene Populisten hätten die Briten zum Brexit | |
verleitet, aber im Laufe der Zeit würden sich die Wähler betrogen fühlen | |
und ihren Irrtum einsehen. So argumentieren bis heute zahlreiche | |
europäische Politiker gerade auf der Linken. Aber es waren nicht die | |
Populisten um Nigel Farage, sondern es war die breite Koalition der | |
EU-Skeptiker quer durch alle politischen Lager, die im Juni 2016 den Brexit | |
mehrheitsfähig machte. | |
Und alle Umfragen in Großbritannien seit der Volksabstimmung, mit einer | |
einzigen Ausnahme, bezeugen, dass die Briten mehrheitlich hinter ihrem | |
Brexit-Votum stehen und es wiederholen würden. Die aktuellen Ziele der | |
Regierung May, also Austritt auch aus dem Binnenmarkt, werden in jüngsten | |
Befragungen mit 55 zu 19 Prozent gutgeheißen. | |
Missverständnis zwei: Der Brexit schade der britischen Wirtschaft. Vor dem | |
Referendum warnte das gesamte Establishment in London vor einer | |
unverzüglich eintretenden wirtschaftlichen Katastrophe im Falle eines | |
Brexit-Votums. In allen Nachrichten wird dies seitdem als Tatsache | |
vorausgesetzt. Wenn es doch positive Daten gibt, heißt es, das sei so | |
„trotz Brexit“. Seltsamerweise gibt es fast nur positive Daten. Fast alle | |
britischen wirtschaftlichen Indikatoren sind positiv. Auch das leichte | |
Sinken des Pfund-Wechselkurses wirkt sich keineswegs negativ aus. | |
Mittlerweile hat die britische Zentralbank, die beim Referendum am | |
schärfsten vor Rezession gewarnt hatte, ihre Fehleinschätzung zugegeben. | |
Ihre Wachstumsprognose für Großbritannien 2017 liegt jetzt wieder über der | |
für Deutschland oder die Eurozone insgesamt. | |
Großbritannien geht also in die Brexit-Verhandlungen mit einer robusten | |
Wirtschaft und mit der öffentlichen Meinung hinter sich. Das verkennt der | |
Konsens der Meinungsmacher in Deutschland. Die Annahme ist, London käme | |
nach Brüssel als Bittsteller angekrochen, der froh sein müsse, nicht | |
umstandslos in die Finsternis verbannt zu werden. | |
## Die EU will 60 Milliarden Euro | |
In Wahrheit ist es die EU, die als Bittsteller aufzutreten gedenkt. In | |
Deutschland weitgehend verschwiegen, in Großbritannien aber genau | |
registriert wurde, dass der designierte Brexit-Verhandlungsführer der EU, | |
der Franzose Michel Barnier, von Großbritannien als Entschädigung für | |
dessen Austritt Geld will. Und zwar bis zu 60 Milliarden Euro – Ausgleich | |
für entgangene zukünftige EU-Haushaltsbeiträge aus London und für | |
mutmaßliche britische Anteile an langfristigen Zahlungsverpflichtungen wie | |
die Pensionen für EU-Beamte im Ruhestand. | |
Denn durch den Brexit verliert die EU ein Viertel ihrer Wirtschaftskraft. | |
Die EU-Finanzen geraten aus den Fugen. Da Großbritannien als eines von nur | |
zwei EU-Ländern seit über vierzig Jahren jedes Jahr Nettobeitragszahler ist | |
– im Jahr 2015 8,5 Milliarden Pfund (damals über 11 Milliarden Euro) –, | |
gehen der EU durch den Brexit viel mehr Einnahmen verloren, als sie an | |
Ausgaben einspart. Entsprechend müssen die verbleibenden Mitglieder, allen | |
voran Deutschland, sehr viel tiefer in die Tasche greifen. | |
Warum sollten die Briten so viel zahlen, statt einfach aufzustehen und zu | |
gehen? Barniers Forderung ist nur dann nachvollziehbar, wenn es stimmt, | |
dass der Brexit die Briten schwächt und sie ihn eigentlich gar nicht | |
wollen; dass die hohe Rechnung für den Austritt sie zur Räson, also zum | |
Verbleib, bringt oder sie eben grollend ihre Strafe akzeptieren. Weil dafür | |
aber nichts spricht, wäre die EU gut beraten, sich endlich eine | |
realistische Brexit-Strategie zu geben. In Großbritannien diskutiert | |
darüber die Öffentlichkeit. Und in Europa? | |
3 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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