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# taz.de -- Die Wahrheit: Hört die Signale von ganz tief unten
> Hosentaschenanrufe verändern weltweit die Kommunikation. Eine Siegener
> Professorin erforscht diese Kontaktform.
Bild: Symbol für die Eigenheiten einer Kultur: der Hosentaschenanruf. Auf dies…
Kommunikation meint im klassischen Sinne die Übertragung einer Nachricht
von einem Sender A zu einem Empfänger B. Sprich: A hat die Absicht, B etwas
mitzuteilen. Aber was ist, wenn A gar nichts mitteilen will? Niemand weiß
zu diesem Thema so viel wie Prof. Dr. Helga Herrmann. Seit dreizehn Jahren
leitet sie an der Uni Siegen den Lehrstuhl für Kommunikation. Ihr
Fachgebiet: „Pocket calls“, zu Deutsch: Hosentaschenanrufe. Herrmann ist
eine Koryphäe auf dem Gebiet. Auf jedem transatlantischen Symposium, jedem
panasiatischen Panel ist ihr Name präsent.
Ein Hosentaschenanruf ist ein „accidental call“, ein unbeabsichtigter Anruf
von einem Mobiltelefon, das sich dabei meist in einer Gesäßtasche befindet.
Es gibt Medienwissenschaftler, die sagen, es handle sich hierbei um
„Fehlkommunikation“. „Diese Arschis haben keine Ahnung!“, erklärt die
47-jährige Professorin. „5,9 Prozent aller weltweiten Anrufe geschehen
heute unabsichtlich – von vielen Forschern, vor allem aus Deutschland,
ignoriert!“ Im England sei man da schon weiter. „Pocket dialing“ wurde do…
immerhin bereits in das „Oxford English Dictionary“ aufgenommen.Für Helga
Herrmann sind Hosentaschenanrufe keine Störung, sondern vielmehr die
reinste, wahrhaftigste Form zwischenmenschlicher Kommunikation, ja „nicht
weniger als eine Insignie des 21. Jahrhunderts. Und intim noch dazu! Die
Stimme des Empfängers direkt an der Arschtasche des Senders, hallo,
privater geht es nicht.“
Außerdem: „Hosentaschenanruf ist nicht gleich Hosentaschenanruf“, mahnt die
leicht ergraute Expertin an. Da gelte es zu systematisieren. Beispielsweise
müsse man unterteilen in nonverbale und verbale Anrufe. Bei ersteren hört
der Empfänger lediglich Rauschgeräusche, „random backround noise“, wie
Herrmann präzisiert: „Es gibt dabei eine enorme akustische Bandbreite, von
Vogelzwitschern, Schnarchen, Blähungen, Phonemen sexueller Erregung bis hin
zu raschelnder Kleidung.“
Allein schon das Stoffgeraschel differenziere sich weiter aus: „Ob
vollgekotzte Jogginghose oder maßgeschneiderter Anzug verändert die
Geräuschkulisse auf Empfängerseite extrem. Da gibt es Zwischentöne, ja
auditive Grauzonen, die sind spannender als jede Symphonie!“
## „Was’n jetze, hä?“
Beim verbalen Anruf hingegen sind menschliche Stimmen und deren
sprachlicher Inhalt wenigstens bruchstückhaft zu hören. Handelt es sich um
einen versehentlichen Rückruf, spräche der Sender nicht selten über den
Empfänger, ob mit sich selbst oder mit anderen, sagt Herrmann und moduliert
ihre Stimme: „Chefchen ist abgewürgt, jetzt kann ich blaumachen!“, oder
eine Stimmlage höher: „Ich muss gleich heim zu meinem Ollen, diesem Dödel!�…
Nicht minder signifikant seien auch die verbalen Reaktionen der Empfänger.
Von „Halloo? Halloo?“ über „Was’n jetze, hä?“ bis „Es ist doch al…
gesagt, du verwichstes Arschloch!“ ist alles drin.
Die Professorin weiß: Hosentaschenanrufe sind ein Phänomen des ausgehenden
20. Jahrhunderts. Zwar fand der erste offiziell registrierte
Hosentaschenanruf bereits im Jahr 1952 in Wyoming statt, als der
Geschäftsmann John Bryson beim Liebesspiel mit seiner Sekretärin
versehentlich gegen sein Walkie-Talkie stieß, das er in der Gesäßtasche
trug, und dabei seine Gattin anrief („Yuuh, yessss, come on, honeybunch!“).
Doch ihren eigentlichen Durchbruch erlebten die „pocket calls“ erst durch
kleine Mobiltelefone in den späten neunziger Jahren.
Wenngleich derartige Anrufe auch schon eine Dekade zuvor vereinzelt
existierten: „Hosentaschenanrufe im Kalten Krieg, 1981–1989“ lautet der
Titel von Herrmanns Habilitationsschrift. Als Juri Andropow,
Generalsekretär der Sowjetunion, kurz vor seinem Tod 1984 unverhofft einen
Anruf auf seinem „Motorola DynaTAC“ erhielt, hörte er Furzgeräusche, die
von niemand Geringerem stammten als von seinem Antipoden. „Reagan? What’s
up, man? Do you want to say something?!“, polterte er mit furios rollendem
R in den Hörer – eine Fußnote der Geschichte, die beinahe zum atomaren
Erstschlag geführt hätte.
## „Guðni, this funny horsefucker!“
Berühmte Hosentaschenanrufe gibt es mitlerweile einige. Im Herbst 2016
erhielt der isländische Präsident Guðni Thorlacius Jóhannesson
versehentlich einen Rückruf von Viktor Orbán und vernahm diesen im
Hintergrund feixen: „Guðni, this funny horsefucker!“ Seither ruhen die
diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern.
„Hosentaschenanrufe verraten viel über die Eigenheiten einer Kultur“, sagt
Herrmann. „Und über ihre Hosen!“ In Kasachstan etwa seien alle Jeans so
skinny, dass kein Smartphone in die Gesäßtasche passe. Noch seltener seien
Hosentaschenanrufe nur im Kongo, da die Einwohner ihre Mobiltelefone dort
nie am Körper trügen, lieber stecke man sein iPhone in den kunstvollen
Haarschmuck aus Missionarsknochen.
Und auf etwas weiteres Wichtiges macht Helga Herrmann aufmerksam – den
Gender-Gap. Denn der Hosentaschenanruf passiert viel mehr Männern. Der
Grund: In Zeiten von hautengen Hosen und monstergroßen Handtaschen hätten
Frauen mit ihrem Mobiltelefon kaum noch Körperkontakt. Vor allem aber,
verrät Herrmann, gäbe es zahlreiche Männer, die den Hosentaschenanruf
absichtlich herbeiführten. Europaweit bekannt wurde der Fall des
57-jährigen Olof M. aus Aarhus, der minderjährige dänische Schülerinnen
anrief, sein Smartphone in die eigene Frotteeunterhose steckte und sich an
den unbedarften Stimmchen („Hej? Hvem der?“) weidlich ergötzte.
Anrufe wie diese bilden eine Sondergruppe, die „intentionally pocket
dials“. Hier jedoch ist sich die Fachwelt noch uneins: Ist auch ein
absichtlich herbeigeführter Hosentaschenanruf noch ein Hosentaschenanruf im
eigentlichen Sinne? Offene Fragen wie diese gibt es viele. „Klar“, nickt
Helga Herrmann, „denn wir stehen ja noch ganz am Anfang der Forschung. Doch
wir machen Riesenschritte. Jeden Tag!“
1 Feb 2017
## AUTOREN
Ella Carina Werner
## TAGS
Forschung
Handy
Telekommunikation
Familie
Arbeit
Beziehung
Schwangerschaft
Burka
Veronica Ferres
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