# taz.de -- Die Wahrheit: Im Stoffgefängnis | |
> Endlich ein sinnvoller journalistischer Selbstversuch: als Frau | |
> undercover unter der himmlischen schwarzen Kutte des Herrn. | |
Bild: Der Traum jeder Undercover-Journalistin: himmlisch gekleidet wie eine Bis… | |
Mit mulmigem Gefühl stehe ich in meiner Wohnung, auf dem Tisch liegt das | |
Paket mit dem fremden, schwarz wallenden Gewand. Gleich werde ich letzteres | |
überziehen, den sackartigen Stoff über meinen Körper streifen. Ich möchte | |
wissen: Wie fühlen sich Menschen, deren Körper aus religiösen Gründen | |
verhüllt sind? Deshalb wage ich den Selbstversuch – ein ganzer Tag im | |
Talar. | |
Die plumpe Gotteskutte habe ich auf E-Bay für 6,53 Euro ersteigert. Sie ist | |
bodenlang und aus schwarzer Schurwolle, dazu ein weißer Halskragen, | |
Beffchen genannt. Der Kragen ist leicht vergilbt. Ist das Rauchergilb, | |
Hamburgersoße oder irgendein Körpersekret? Lieber nicht darüber nachdenken. | |
Ich schlüpfe hinein, binde mir den Kragen um und schaue in den Spiegel. | |
## Streng durch die Straßen | |
Plötzlich sehe ich ganz anders aus. Mein Gesicht wirkt blasser. Beinahe | |
streng. Gleich werde ich aus der Haustür gehen, durch die Straßen von | |
Hamburg. Gleich werde ich es erfahren: Wie ist es, im Jahr 2016 einen Talar | |
zu tragen? In einer Zeit, in der man sich wieder fürchtet vor christlichem | |
Fundamentalismus? In der bibeltreue Scharfmacher wie Donald Trump oder | |
Beatrix von Storch Angst und Schrecken verbreiten? | |
9.30 Uhr. Ich trete auf den Gehweg. Wage die ersten Schritte, fühle mich | |
ungelenk. Dauernd trete ich auf den Saum. Seit fünf Minuten besitze ich | |
keine Persönlichkeit mehr. Sie ist verloren gegangen in dem Stoffgefängnis, | |
liegt verborgen unter dem Beffchen. Erste Passanten kommen mir entgegen. | |
Ein paar Blicke suchen meine Augen und huschen schnell wieder weg. Eine | |
alte Dame bleibt stehen, winkt mir selig zu. | |
Eine Straßenecke weiter spricht mich ein junger Mann um die dreißig an: Er | |
finde den Talar „befremdlich“, sagt er. „Wenn man so limitiert ist, | |
schade!“ Auf dem Marktplatz stellt sich mir ein älterer Herr in den Weg: | |
„Da kriegen die kleinen Kinder doch Angst!“ Die Kommentare gelten mir – | |
oder vielmehr dem schwarzen Stoff, den ich mit mir herumschleppe. | |
Ich bin ein Objekt, eine wandelnde Projektionsfläche. Man könnte auch | |
sagen: ein lebender Kirchturm. Dass sich unter dem Talar eine Frau | |
befindet, die früher vielleicht mal Modedesignerin werden wollte oder | |
Sängerin in Talentshows, darüber denkt niemand nach. | |
Wissen ist das eine, zu fühlen etwas ganz anderes. Wie ist das, nie Sonne | |
auf den Schultern zu spüren, nicht rennen oder Arschbomben im Freibad | |
machen zu können, nicht zu tanzen, zu kiffen oder nächtelang in Bars | |
herumzuhocken? Nicht zu leben? | |
Ich wandle durch ruhige Seitenstraßen, hier spricht mich kaum jemand an. | |
Wenn nur diese Blicke nicht wären! Diese Blicke, in denen zu lesen ist, | |
dass sie alles über mich zu wissen meinen: Die Gotteskutte – eine radikale | |
Christin. Die Gotteskutte – eine Sklavin vor dem Herrn. Der Stoff riecht | |
würzig, kratzt ein bisschen im Nacken. So langsam gerate ich ins Schwitzen. | |
21 Grad sind es an diesem lauen Septembertag, und es wird immer wärmer. | |
Um ein bisschen Variation in den Tag zu bringen, steige ich in eine S-Bahn. | |
Die Türen schließen sich hinter mir. Eine grauhaarige Volltätowierte mit | |
Ratte auf der Schulter lehnt neben mir und grinst mich abschätzig an. | |
„Judas Priest“ steht auf ihrem Kapuzenpulli. „Gott ist tot!“, brummt sie | |
und macht eine Kaugummiblase. Ein Hipster zeigt mir den Vogel. Ein Junge | |
zückt seine Handykamera, seine Freundin sagt: „Pervers. Total pervers, die | |
Alte!“ | |
„Und am Strand mit Talarkini, oder was?“, feixt ein Schnurrbartträger. | |
Umstehende lachen. „Am achten Tag schuf Gott das Bier, / und seitdem hört | |
man nichts von ihr!“, legt ein Dickbäuchiger johlend nach. Endlich, die | |
nächste Haltestelle. Schweißüberströmt steige ich aus. Dann lieber wieder | |
durch die Straßen. | |
Gleich ist Mittag. Der Hunger treibt mich Richtung Fußgängerzone. Hotdog | |
essen geht gut, ich kleckere nur ein bisschen aufs Beffchen. Eine | |
Rothaarige zupft an meinem Ärmel: „Darf ich mal anfassen?“ Ein älteres | |
Pärchen winkt mir freudestrahlend zu. | |
## Kollegin unter der Burka | |
Da steht plötzlich neben mir am Hotdog-Stand eine Frau in einer Burka. Ich | |
lächle ihr zu, fühle ein unsichtbares Band der Solidarität zwischen uns. | |
Die Burka-Trägerin rückt näher, entzündet eine American Spirit und bietet | |
mir eine an. „Psssst … hey, Ella!“ Es ist Claudia Mayer vom Stern. Durch | |
das Gesichtsgitter zwinkert sie mir zu. „Weißt du, ich mach hier einen | |
superkrassen Selbstversuch!“ | |
Nach dem Essen geht es weiter. Vorm Rathaus steht ein älterer Herr, der bei | |
meinem Anblick nur kopfschüttelnd ein Wort wiederholt: „Scheiße, Scheiße, | |
Scheiße!“ Diese Reaktion inspiriert ein paar Jugendliche, ein Lied | |
anzustimmen: „Gott ist mächtig, Gott ist groß, / fünf Meter sechzig und | |
arbeitslos!“ Und dann rammt mir noch eine faltige Greisin ihren Gehstock | |
ins Kreuz: „Grüß Gott! Sind Sie Jürgen Fliege“? | |
Jetzt reicht es aber! Ich renne zurück nach Hause. Hastig lege ich den | |
Talar ab. Und fühle mich wieder frei. | |
28 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Ella Carina Werner | |
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