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# taz.de -- Die Wahrheit: Waten im Witwenblut
> Wieder ist ein spannendes Buch über einen dramatischen Selbstversuch
> erschienen: Eine Familie lebte von nur einem Euro am Tag.
Bild: Schnappschuss aus glücklichen Tagen: Vater Paulsen unterwegs
Geld verprassen, Produkte anhäufen, ein Leben im Konsumrausch führen – das
muss nicht sein, dachte sich Familie Paulsen aus Oldenburg und plante einen
Selbstversuch: ein Jahr lang den Shoppingzwängen ade zu sagen und zu viert
mit einem Euro pro Tag auszukommen.
Über dieses spannende Jahr haben die Paulsens jetzt ein Buch geschrieben:
„Einfach glücklich leben“, lautet der Titel, der diese Woche im Piper
Verlag erscheint. Auf 245 Seiten zeigt die vierköpfige Familie, weshalb ein
einfaches Leben die beste Antwort auf den Konsumterror ist. Vier Leute, ein
Euro, ein Jahr – wie haben die Paulsens das nur gemacht?
## Schmackhafte Wirbeltiere
„Na, geklaut“, sagt die 37-jährige Julia Paulsen in ihrer Gartenlaube am
Stadtrand von Oldenburg. „Geklaut wie die Raben! Wir sind einfach
umhergezogen und haben uns genommen, was wir wollten.“ Aber ganz von vorn.
Das erste Kapitel des Buches heißt „Einfach essen“. Darin beschreibt die
Familie, wie sie Speisen aus dem zubereiteten, was sie in der Gegend
fanden, ob wilde Beeren, Sauerampfer oder schmackhafte Wirbeltiere. „Es
muss nicht immer das teure Biolammkotelett sein. Es geht auch das saftige
Katzensteak!“, bekräftigt die zweifache Mutter.
Als das Sammeln die Mägen nicht mehr füllte, ging die Familie zu „Mundraub
bei Mondschein“ über, wie das zweite Kapitel betitelt ist: „Manche Nacht
schlichen die Paulsens mit ihren Kindern Noah (6) und Luisa (4) zum
Hühnerstehlen und Kartoffelnausbuddeln auf die sternenbeschienenen Äcker.
Abenteuer, die nur wenige Kinder heute noch erleben“, erinnert sich Julia
Paulsen mit leuchtenden Augen. „Als der Bauer auf seinem Mähdrescher hinter
uns herdonnerte und wir im letzten Moment das rettende Waldstück erreichten
– war das ein Spaß!“
Mit den Wochen ging die Familie auch zum Diebstahl über, wovon das vierte
Kapitel „Herbstlaub & Straßenraub“ zeugt. „Nur einmal“, sagt Julia Pau…
und ihr Blick wird dabei nachdenklich, „haben wir einer alten Dame die
Handtasche so brutal entwendet, dass sie bewusstlos liegen blieb. Das würde
ich so nicht noch mal machen. Warum haben wir nicht auch noch ihren fetten
Dackel einkassiert und gegrillt?“
Die ersten sechs Monate lebte Familie Paulsen weiterhin in ihrem eigenen
Haus. Doch die Nachbarschaftskonflikte häuften sich, und nach diversen
verschwundenen Haustieren und einem Kellereinbruch war die Stimmung
merklich angespannt. „Die Leute haben uns einfach nicht verstanden“, sagt
Julia Paulsen. „Die waren gefangen in ihrem tradierten Lebensmodell. Immer
nur: meins, meins, meins!“
Deshalb gingen die Paulsens noch einen Schritt weiter und zogen mit nichts
als einem hölzernen Handkarren, einem Sack Unterwäsche und einem
Springmesser durch Norddeutschland. „Das war schon toll, so befreit von
allem materiellen Ballast“, schwärmt Julia Paulsen.
„Besitzen, besitzen, wenn ich das schon höre“, klinkt sich auch ihr Ehemann
Sebastian Paulsen (42) ein. „Man muss nicht immer alles selbst besitzen!“
Schlafgelegenheiten organisierte sich die Familie spontan. „Das erste Mal
kostete es schon ein bisschen Überwindung“, sagt Julia Paulsen, „die fremde
Terrassentür einfach mit einem Gartenzwerg einzuschlagen!“ Von diesen
nächtlichen Abenteuern erzählt das 75-seitige Kapitel „In fremden Betten“.
„Da rückt man als Familie enger zusammen“, sagt Sebastian Paulsen. „Da
begreift man, was wirklich wichtig ist. Und lernt sich noch mal ganz neu
kennen – auch als Paar. Zum Beispiel in fremden Badewannen!“
Nacht für Nacht stiegen die vier Abenteurer heimlich in fremde Häuser ein.
Die letzten Monate jedoch zogen die Paulsens offen brandschatzend durch die
Dörfer, marodierten in den Straßen, dass sich die Menschen ängstlich hinter
ihren Türen verbarrikadierten. Wenn auch nicht immer mit Erfolg. Das letzte
Buchkapitel strotzt vor Schweiß, Tränen und Witwenblut auf Kellertreppen.
## Schmackhafte Labradornierchen
Seit Februar 2016 sind die Paulsens wieder in ihren eigenen vier Wänden.
Und froh, daheim zu sein. „Es hat schon ein wenig gebraucht, sich im alten
Leben einzufinden“, resümiert Julia Paulsen wehmütig. „Vieles vermissen
wir. Zum Beispiel schmackhafte Labradornierchen. Oder Analsex auf
unbekannten Matratzen. Und manchmal kommen die Kinder noch mit fremden
Kreditkarten oder einem fleischigen Säugling nach Hause. Dann müssen wir
ihnen erklären, was Eigentum ist und dass sie die Menschen mit ihrem
Verhalten sehr traurig machen. Nun ja, wir konnten nicht ewig so leben. Wir
müssen jetzt unser Buch promoten.“ Ein Interview mit der Landlust steht für
heute noch an und ein Auftritt bei „Markus Lanz“.
Anderen Menschen Mut machen, sich eine kreative Auszeit zu gönnen und aus
gesellschaftlichen Konventionen auszubrechen, das ist den Paulsens ein
Anliegen. Sie selbst leben wieder völlig normal. Aber das unbeschwerte Jahr
bleibt für die vier eine kostbare Erfahrung, von der sie noch lange zehren
werden.
1 Jul 2016
## AUTOREN
Ella Carina Werner
## TAGS
Familie
Schwerpunkt Armut
Selbstversuch
Burka
Veronica Ferres
Zahnarzt
Hate Speech
Familie
Arbeitsmarkt
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