# taz.de -- Politische Haltung und Widersprüche: Links, cool, selbstbesoffen | |
> In gebildeten linken Milieus scheint man von der unbedingten Richtigkeit | |
> des eigenen Standpunkts überzeugt. Damit liegt man schon falsch. | |
Bild: Zumindest in der U-Bahn teilen sich viele unterschiedliche Menschen dense… | |
Es war in den neunziger Jahren auf der Universität in Marburg, als mir die | |
beängstigende Selbstgewissheit eines bestimmten Milieus zum ersten Mal | |
auffiel. Eine sanfte kognitive Dissonanz war es zunächst nur, ein leichter | |
Widerspruch im Kopf, es hätte auch ein Kratzer auf meiner Brille sein | |
können. | |
Mit heißen Ohren studierte ich unter anderem Germanistik und Politologie | |
und widmete mich Bertolt Brecht: „Fragen eines lesenden Arbeiters“, umgeben | |
von lesenden Studentinnen und Studenten aus der Hausbesetzerszene, die | |
eigentlich gar keine Fragen mehr hatten und „Arbeiter“ nur zu sehen | |
bekamen, wenn gerade die elterliche Dachgeschosswohnung ausgebaut wurde. | |
Ich staunte, was sie schon alles gelesen, worüber sie eloquent zu reden | |
imstande waren. Schlaue und schöne und ernste Leute waren das, zu denen ich | |
auch gerne gehört hätte. Wenn sie sich allerdings nach den Seminaren im | |
Frazzkeller oder der Buchhandlung Roter Stern trafen, um sich vertiefend | |
über Texte von Trotzki auszutauschen, hatte ich leider keine Zeit. | |
Da stand ich auf dem Bau, zusammen mit „dem Arbeiter“. Und der las nicht. | |
Der trank schon morgens Mariacron, um den Stumpfsinn zwischen Steinwolle | |
und Rigipsplatten überhaupt aushalten zu können. In den Pausen durfte ich | |
mir neben dem üblichen Spott („Was schtudierschen du? Pornografie?“) auch | |
ihre Gespräche untereinander anhören, und die kreisten um die Eintracht | |
Frankfurt und den nächsten Urlaub in der Dominikanischen Republik. Sie | |
kreisten nicht um die Expropriation der Expropriateure. | |
## Melancholische Figur im Trachtenjanker | |
Brecht fragte: „Wohin gingen am Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war, | |
die Maurer?“ Nun, die Maurer, die ich kennengelernt hatte, gingen in den | |
Puff oder verdämmerten mit einem Bier vor der Glotze. Sie lasen Bild und | |
den damals neuen Focus, nicht Konkret oder die taz. Der Chef war eine | |
melancholische Figur im Trachtenjanker, der alle paar Tage mit dem Mercedes | |
vorgefahren kam und mir einmal sagte: „Wenn du die gleichen Sorgen hättest | |
wie ich, dann würdest du auch CDU wählen“. | |
Einmal wagte ich im Seminar, auf diesen Widerspruch hinzuweisen. Auf die | |
Tatsache, dass all das theoretische Wortgeklingel „da draußen“ auf komplett | |
taube Ohren stieß. Ich weiß noch, wie der Professor mich milde anlächelte | |
und über Verblendungszusammenhänge belehrte. Er wusste Bescheid, ich nicht. | |
Bescheid wusste auch mein damals bester Freund, der um den Hals einen | |
erbeuteten Mercedes-Stern trug wie den Skalp eines Feindes: „Mercedes ist | |
ein Rüstungskonzern, weißt du das nicht?“, fragte er und stieg in seinen | |
charmanten Kleinwagen der Marke Renault, die damals ebenfalls nur der | |
Ableger eines Rüstungskonzerns war. Aber was wusste denn ich? Hatte ich | |
Adorno gelesen? Eben. | |
Ich hatte – und habe – dieser moralischen Selbstgewissheit nichts | |
entgegenzusetzen als meine Zweifel. Zumal gerade die glühendsten Verfechter | |
ihre Ideale wie einen Scheck mit sich herumtrugen, der niemals gedeckt | |
wurde. Mein sozialdemokratischer Freund, der Herbert Wehner so gut | |
nachmachen konnte? Ist heute Lobbyist für Energiekonzerne. Meine | |
kommunistische Freundin, die ihren bourgeoisen Vermieter „an die Laterne“ | |
wünschte? Schreibt heute gut bezahlten Flachsinn für Boulevardblätter. Der | |
Punk? Wurde der Bürgersohn mit Immobilien, der er immer war. | |
## Selbstgewisse Schwindler | |
Meine Skepsis ist geblieben und leistet mir weiter gute Dienste immer dann, | |
wenn mir Selbstgewissheit begegnet, vor allem in weltanschaulichen | |
Belangen. Sobald jemand vorgibt, die Lage durchschaut und einen Weg zur | |
Lösung der betreffenden Probleme zu kennen, sobald also jemand sich als | |
„holier than thou“ ausgibt – ist er schon als Schwindler entlarvt. Sein | |
Habitus begegnet uns nicht nur bei alten Rechten, wo es zu erwarten ist, | |
sondern auch unter jungen Linken, wo er immer wieder aufs Neue irritiert. | |
Diese Selbstgewissheit betrifft nicht nur die Sorgen und Sehnsüchte | |
„proletarischer Massen“ (wie das früher hieß), auf die, wenn überhaupt, … | |
mit elitärem Dünkel und der paternalistischen Absicht einer „Umerziehung | |
zum Guten“ herabgeschaut wird. Sie äußert sich auch im Umgang mit | |
abweichenden Lebensentwürfen oder auch nur Meinungen in toto. | |
Da wird fast schon instinktiv ein Ton in Anschlag gebracht, der alles | |
andere als „liberal“ ist. Schnell kommt eine Unerbittlichkeit ins Spiel, | |
die keine Gefangenen macht. Das mag bisweilen sehr intelligent und | |
vernünftig klingen, erinnert mich in seiner Unbedingtheit aber doch an | |
zänkische Kleinkinder: „So ist das nicht! Wenn du das sagst, bist du doof! | |
Ich hasse dich!“ Meine Erfahrungen mit zänkischen Kleinkindern haben mich | |
gelehrt, dass nach einer solchen Eskalation einstweilen kein vernünftiges | |
Wort mehr möglich ist. Zumal es Möglichkeiten digitaler Ausblendung heute | |
leichter machen denn je, dem Anderen in seiner hässlichen | |
Unverbesserlichkeit aus dem Weg zu gehen. Der findet dann einfach nicht | |
statt, bis wir ihm in Wahlergebnissen wieder begegnen. | |
## Das Richtige vom Richtigen | |
Bis dahin aber dürfen wir uns auf eine vorsichtig halbironische Weise | |
„auf der richtigen Seite“ fühlen. Mit richtigen, aber folgenlosen Meinungen | |
zum Nahen Osten, zu Donald Trump und zum bedingungslosen Grundeinkommen. | |
Mit der richtigen Musik auf den Ohren, den richtigen Sneakers an den Füßen, | |
dem richtigen Craft-Bier im Glas und den neuesten diskriminierungsfreien | |
Personalpronomen auf den Lippen. | |
Bis dahin spielen wir uns ohne allzu verschlungene akademische Umwege als | |
„hippes Völkchen“ auf, ein im Zweifelsfall rot lackiertes Justemilieu, das | |
soziale und kulturelle Realitäten in günstigen Stadtvierteln für | |
Filmkulissen hält, in denen das bessere, ach was, beste aller Leben all | |
jenen vorgespielt werden kann, für die das Leben alles andere ist als ein | |
Spiel. Was sich hier äußert, ist eine nach außen umgestülpte und durchaus | |
missionarische Innerlichkeit, behaglich eingerichtet freilich in den | |
vorbildlich isolierten Eigentumswohnungen unserer Selbstgewissheit. | |
Ein Kardinalproblem unserer Zeit könnte sein, dass wir alle so irrsinnig | |
gut Bescheid zu wissen glauben, dass wir unseren permanenten Blick in den | |
Spiegel nicht nur mit Selbst-, sondern sogar mit Welterkenntnis verwechseln | |
– und uns für gewitzter halten, als wir sind. Könnte sein. Ganz sicher bin | |
ich mir aber auch nicht. | |
25 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Arno Frank | |
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