# taz.de -- Elendsviertel Sidi Moumen: „Ich wollte aus Marokko weg“ | |
> Über Sidi Moumen wurde nach Silvester 2015 viel geredet. Besuch bei einem | |
> Mann, der in Deutschland sein Glück suchte – und nun zurück ist. | |
Bild: Straßenszene in Sidi Moumen 2007, aufgenommen nach einem Bombenanschlag … | |
Die Jungs, sagt Boubker Mazoz, „die Jungs haben hier kaum Perspektiven.“ Er | |
leitet das Kulturzentrum in Sidi Moumen, einem Stadtteil von Casablanca, | |
Marokko. „Die meisten von ihnen träumen von Deutschland“, erzählt er. | |
Ein Traum, der für viele junge Männer seit der Kölner Silvesternacht vor | |
einem Jahr in weite Ferne gerückt ist. Seitdem kennt man Sidi Moumen auch | |
in Deutschland, das Viertel hat dort für Schlagzeilen gesorgt. Negative | |
Schlagzeilen: Laut Polizeiberichten kamen viele der mutmaßlichen Täter, die | |
am Kölner Hauptbahnhof Frauen belästigt haben, aus diesem Viertel, das auch | |
in Marokko längst traurige Berühmtheit erreicht hat. Es gilt als Hochburg | |
von Kriminellen, Drogenhändlern und Islamisten. | |
Begründet wurde der schlechte Ruf spätestens im Mai 2003 – damals war | |
bekannt geworden, dass die Drahtzieher jener islamistisch motivierten | |
Selbstmordanschäge, bei denen vierzig Menschen um ihr Leben kamen und über | |
einhundert verletzt wurden, aus Sidi Moumen stammten. | |
Sidi Moumen, das ist ein Moloch am nördlichen Rand von Casablanca. Auf dem | |
Areal, das einst als Müllkippe angelegt worden war, leben heute geschätzt | |
500.000 Menschen. Jeder achte Einwohner der Millionenmetropole Casablanca. | |
Wer ein wenig Glück hatte, wohnt in einer der vielen Sozialwohnungen, die | |
an den Rändern der einstigen Müllkippe gebaut wurden. In den achtziger und | |
neunziger Jahren ersetzten sie die Blechhütten, die endlich aus dem | |
Stadtbild verschwinden sollten. Trotzdem hausen immer noch mehr als ein | |
Drittel der Einwohner Sidi Moumens unter Wellblechdächern. Ein Großteil von | |
ihnen ist in noch jugendlichem Alter. | |
## Marokkos modernes Image | |
Kinder spielen in den engen Gassen zwischen den Hütten. Der Boden ist | |
schmierig. An einer Ecke, an der die Sonne scheint, liegt altes Brot zum | |
Trocknen. Daraus wird vermutlich später Couscous gemacht, die | |
Nationalspeise Marokkos. Hier und da stehen Tiere: Esel und Kühe, | |
Federvieh. Sie fressen an den herumliegenden Müllhäufchen herum. Es ist ein | |
Ort, der nicht zu dem Image als modernes, relativ reiches Land passen will, | |
das sich Marokko in den letzten Jahren zugelegt hat. | |
Boubker Mazoz hat 2006 das „Sidi-Moumen-Kulturzentrum“ gegründet. Mitte | |
sechzig ist er. Grauer Schnurrbart, dunkler Anzug. Seine grauen Haare | |
verdeckt er mit einer Baskenmütze. Die Jungs hier im Viertel bezeichnet er | |
als „seine Jungs“. Das Kulturzentrum unweit der Wellblechhüttenkolonie soll | |
ein Treffpunkt für sie sein. | |
Es ist ein schlichtes Gebäude, zwei Geschosse, und tatsächlich kommen die | |
Kinder und Jugendlichen gern hierher. Es werden Sprach-, Musik- und | |
Theaterklassen angeboten. Es gibt eine Bibliothek. Es gibt ein Fußballfeld. | |
Und einen ausrangierten amerikanischen Schulbus mit Kennzeichen des | |
Bundestaates Virginia, der als Abenteuerspielplatz und Aufenthaltsraum | |
genutzt wird. Drin sitzt Abdeslam, zusammen mit seinen Kumpels. | |
Abdeslam ist 21. Er trägt die Haare nass nach hinten gekämmt. Seine | |
taillierte schwarze Lederjacke und die engen Jeans betonen seinen kleinen, | |
dünnen Körper. Stolz erzählt er vom Abenteuer seines Lebens, das ihn bis | |
nach Frankfurt gebracht hat, als illegaler Migrant, weshalb er seinen | |
Nachnamen nicht nennen möchte. In Köln aber sei er nie gewesen, er schwört | |
es: „Ich wollte aus Marokko weg. Hier ist es schön. Hier gibt es alles. | |
Aber wenn du nichts hast, dann bist du niemand.“ | |
## Aus Sidi Moumen kommen die Parkplatzwächter | |
Abdeslam fasst ganz gut in Worte, was seine Heimatstadt Casablanca | |
ausmacht. Es ist die größte und zugleich die reichste Stadt in Marokko. | |
Hier leben etwa vier Millionen Menschen. Die Reichen zeigen gern das, was | |
sie haben. Sie versuchen, ihren europäischen Vorbildern aus Paris und | |
London nachzueifern, dabei heraus kommt ein Lifestyle, der dem der | |
Golfaraber ähnlich ist: Zur Schau gestellter Konsum und Luxus prägen das | |
Stadtbild. Fette Autos, Markenklamotten werden wie auf dem Laufsteg | |
präsentiert, man speist in teuren Restaurants. An einem Abend gibt ein | |
einzelner Reicher hier locker mehr aus als das, was der Parkplatzwächter | |
oder die Putzkraft in einem Monat verdient. Und genau diese Leute kommen | |
aus Vierteln wie Sidi Moumen. | |
Abdeslam wollte nicht Parkplatzwächter werden. Früher, so erzählt er, habe | |
er als Fahrer gearbeitet. Doch dann, Anfang November 2015, als die | |
„Flüchtlingswelle“ in Richtung Europa ihren Höhepunkt erreicht hatte, | |
verkaufte er seinen Roller und seinen Hund – für ein Ticket nach Istanbul. | |
Damals, hatte sich in Sidi Moumen herumgesprochen, dass es leicht sei, nach | |
Deutschland zu kommen. Man sah im Fernsehen die offenen Grenzen – und eine | |
Chance, dem Elend zu entfliehen. | |
Boubker Mazoz, der Sozialarbeiter, erinnert sich an die Zeit: „Zuerst lerne | |
man den syrischen Dialekt und dann viel über Syrien … Wir hatten zu der | |
Zeit einen Witz: Wenn die Jungs von der türkischen Polizei verhaftet | |
werden, werden sie gefragt, woher kommst du? – Aus Marokko. – Und was | |
machst du hier? – Ich bin syrischer Flüchtling.“ | |
Abdeslam versichert, dass er sich immer nur als Marokkaner ausgegeben hat. | |
Drei Wochen habe er damals gebraucht bis zur deutschen Grenze. Von Istanbul | |
ging es mit dem Bus nach Izmir, mit dem Schlauchboot weiter nach | |
Griechenland, dann die Balkanroute – bis nach Deutschland. Er erzählt von | |
dieser Zeit wie ein Neunzigjähriger, der beide Weltkriege erlebt hat. „Ich | |
habe viel gelitten. Schlimme Sachen durchgemacht.“ Er wurde überfallen, mit | |
Waffen bedroht, hat unter Brücken geschlafen. Wenn da nicht sein noch | |
kindliches Lachen wäre, könnte man tatsächlich vergessen, wie jung er | |
eigentlich ist. | |
So jung, dass er sich in Frankfurt erfolgreich als minderjährig hatte | |
ausgeben können. „Wenn du minderjährig bist, dann kümmern sie sich um | |
dich“, sagt er. „Sie haben mich ins Hotel gebracht, haben mich gefragt, ob | |
ich Klamotten haben will. Sie haben mir gegeben, was ich brauchte.“ Das sei | |
die schönste Zeit gewesen, erinnert er sich. „Ganz ehrlich, die Deutschen | |
haben sich sehr um mich gekümmert. Ich bin jeden Tag in die Schule | |
gegangen. Habe Fußball gespielt, sie haben mir Fußballschuhe gegeben.“ | |
## Bei Facebook nennt er sich „der Deutsche“ | |
Doch dann wurde er einem Heim im Ruhrgebiet zugeteilt. Es gab Streitereien | |
zwischen den Nationalitäten. Und weil er allein dort war, keiner der | |
Gruppen und Familien zugehörig war, wurde er von den anderen ausgeraubt und | |
geschlagen. | |
Er „haute ab“, fing an, durch ganz Europa zu reisen. Mal habe er bei | |
anderen Marokkanern gelebt, mal Flaschen gesammelt. „Du brauchst nicht | |
viel, um dich in Europa über Wasser zu halten“, sagt er. Überall sei er | |
freundlich empfangen worden. „Du hast Würde, auch wenn du nichts hast. | |
Nicht wie hier in Marokko.“ Doch er wusste, dass er kaum Chancen hatte, in | |
Europa zu bleiben. | |
Er zückt sein Handy und zeigt Bilder von sich in Frankfurt, Brüssel, Paris, | |
Mailand. Hier in Sidi Moumen, der Beweis dafür, dass er es an all die Orte | |
geschafft hat, von denen seine Altersgenossen aus der Nachbarschaft nur | |
träumen können. | |
Und doch ist er zurückgekommen. Er musste, wie er sagt. Angeblich, weil | |
seine Mutter krank ist. Ein Grund, der ihn in seinen eigenen Augen | |
männlicher erscheinen lässt. Keiner seiner Freunde in Sidi Moumen wird ihm | |
vorwerfen können, er hätte es in Europa nicht geschafft. | |
In seinem Facebook-Profil nennt er sich nun „der Deutsche“. Und den Traum, | |
wieder nach Deutschland zu gehen, hat er nicht aufgegeben, „weil man dich | |
dort mit Würde behandelt – du siehst dich selbst als wertvoll an. Du fühlst | |
dich wie ein Mensch. Auch wenn eine Katze auf einem Stuhl schläft, wird sie | |
in Deutschland keiner wegscheuchen. In Marokko werden Menschen nicht so gut | |
behandelt.“ | |
## „Nie hatte ich Handschellen um. Bis zu dieser Nacht“ | |
Die Bilder auf seinem Mobiltelefon sind auch der Beweis, dass er in der | |
Silvesternacht nicht in Köln war. „Hier, sieh mal“, sagt er, als hätte er | |
auf die Frage gewartet, wo er den Jahreswechsel gefeiert habe. „Ich war in | |
Brüssel.“ Das habe er auch der Polizei bei einer Nachtrazzia im Februar in | |
seinem Heim im Ruhrgebiet erzählt. „Nie hatte ich Handschellen um. Bis zu | |
dieser Nacht.“ Nach den Ereignissen in Silvester sei es vorbei gewesen mit | |
der Freundlichkeit. Die Polizei habe sein Telefon durchsucht, seine | |
Fingerabdrücke genommen. Die Selfies in Brüssel haben ihn gerettet. | |
Die Ereignisse der Kölner Silvesternacht und ihre Folgen sind auch bis Sidi | |
Moumen gedrungen. Boubker Mazoz ist wütend, als er erzählt: „Die Menschen | |
haben sich geschämt! Viele haben sich auch verletzt gefühlt, denn es geht | |
um den Ruf unseres Landes.“ Mazoz spricht von „einer Hand voll | |
Krimineller“, wenn er von den Tätern von Köln redet. | |
Abdeslam spricht von Verrückten, die anderen die Chance ihres Lebens | |
versaut und ihm selbst das Leben schwer gemacht hätten. „Du konntest danach | |
nicht mal mit Frauen normal reden als Marokkaner. Sie dachten dann, der | |
will mich beklauen, der will mich verarschen. Als käme man von einem | |
anderen Planeten.“ Vor Silvester habe er Kontakte zu Frauen gehabt. | |
Man habe sich im Einkaufszentrum getroffen, im Park, bei McDonald’s auch – | |
und habe geredet. „Und wenn sie dich mag, dann sagt sie …“ Er hält kurz | |
inne und versucht sich zu erinnern. Dann fällt ihm der Satz ein. „Ich liebe | |
dich“, sagt er auf Deutsch. | |
8 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Khalid El Kaoutit | |
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