| # taz.de -- Italiens Jugend und der Minister Poletti: Die Kellner Europas | |
| > Italiens Arbeitsminister findet, sein Land komme gut ohne junge Leute | |
| > aus, die ihr Glück im Ausland suchen. Jetzt steht er selbst vor dem | |
| > Abgang. | |
| Bild: Giuliano Poletti steht unter Druck. Er könnte einfach emigrieren | |
| Marco treffe ich fast jeden Morgen. Der junge Politologe aus Neapel trinkt | |
| wie ich vor Arbeitsbeginn einen Espresso in einem kleinen italienischen | |
| Imbiss in der Nähe der taz. | |
| Manchmal nicken wir uns nur verschlafen zu, öfter kommen wir ins Gespräch, | |
| über italienische und deutsche Dinge, über meinen FC Bayern und seinen SSC | |
| Napoli, wir fluchen über die Treulosigkeit von Gonzalo Higuaín oder die | |
| Aufgeblasenheit von Uli Hoeneß. Dann gehe ich in die Redaktion und Marco | |
| zum Teig. Marco ist Pizzabäcker – und um das gleich zu sagen: Er klagt | |
| nicht. | |
| Die jüngsten Äußerungen des italienischen Arbeitsministers Giuliano Poletti | |
| (65) haben auch deswegen so viel Empörung hervorgerufen, weil die | |
| Hunderttausende von jungen Italienern, die zu Hause keine Chance auf einen | |
| Job bekommen, keine Weicheier sind. Diese „cervelli in fuga“ ([1][„Gehirne | |
| auf der Flucht“]) nehmen in der Fremde, was sie kriegen können, sie | |
| arbeiten hart, sie stecken voller Ideen und Energie. Sie sind der Stolz | |
| Europas – und sollten doch auch der Stolz Italiens sein. | |
| ## Zum Schaden der Hohn | |
| Der für ihr Fortkommen zuständige Minister aber, dessen Leistung Beobachter | |
| seit seinem Amtsantritt in der Regierung Renzi 2014 schlicht mit | |
| „ungenügend“ bewerten, nannte sie am vergangenen Montag „junge Leute, die | |
| gut daran getan haben wegzugehen; sie sind schon richtig da, wo es sie | |
| hingezogen hat: Dieses Land kann sehr gut darauf verzichten, dass sie uns | |
| weiter auf die Nerven gehen.“ | |
| Viele verlangen jetzt den Rücktritt des Ministers. Sie wollen es sich nicht | |
| bieten lassen, dass zum Schaden, den er mit zu verantworten hat – die | |
| Massenemigration junger, auf Kosten der Gesamtheit gut ausgebildeter | |
| Italienerinnen und Italiener – nun auch noch der Hohn dazukommt. | |
| Im Magazin [2][L’Espresso]schrieb Marta Fana, eine italienische | |
| Wissenschaftlerin, die in Paris lebt, Poletti einen Brief, der an | |
| Analyseschärfe nichts zu wünschen übrig lässt: „Das Problem, Herr Ministe… | |
| ist, dass Sie und Ihre Regierung unsere Generation wie auch schon die | |
| vorhergegangene und zukünftige zu den Kellnern Europas gemacht haben, zu | |
| den Babysittern der Touristen, zu denjenigen, die in naher Zukunft sich | |
| einen Krieg mit den Migranten liefern sollen, die ihr jetzt für euch | |
| schuften lasst.“ | |
| ## Mehr Mafia, weniger Italien | |
| An diesem Punkt half dem Exkommunisten und heutigen PD-Mitglied Poletti | |
| auch eine am Dienstagabend nachgereichte Entschuldigung nicht weiter. Es | |
| scheint inzwischen ein globales Wording für Politiker zu geben, wie sie, | |
| die doch vor allem mit Worten wirken, diese wieder einzufangen versuchen, | |
| wenn sie ihrem Amt gefährlich werden könnten. Es tue ihm leid, er habe doch | |
| eigentlich betonen wollen, wie tüchtig die jungen Leute seien, die im Land | |
| blieben. Ach so. | |
| Poletti steht aber auch noch für ein anderes beliebtes Spielzeug aus der | |
| Überraschungskiste heutiger Politik: Wenn man an der von den | |
| Vorgängerregierungen geerbten Jugendarbeitslosigkeit nichts hat ändern und | |
| auch keine Wachstumsimpulse hat setzen können, wenn man zudem gerade ein | |
| Referendum speziell bei den Jungen krachend verloren hat – wenn man | |
| gescheitert ist: Dann müssen es die Menschen selbst sein, die schuld sind | |
| an der Misere. | |
| Italienspezifisch kommt hinzu, dass die Herrschaft der Alten und der alten | |
| Beziehungsgeflechte in der nicht enden wollenden Krise sich verfestigt. Das | |
| Land verliert an Jugend, an Modernität, an Konkurrenzfähigkeit und richtet | |
| sich im Zynismus ein. Die Zyniker propagieren dann als einzig | |
| „intelligente“ Perspektive: persönlichen Reichtum statt gesellschaftlicher | |
| Entwicklung – das Prinzip, mit dem die Mafia in Süditalien seit mehr als | |
| einem Jahrhundert herrscht. | |
| 22 Dec 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://it.wikipedia.org/wiki/Fuga_di_cervelli | |
| [2] http://espresso.repubblica.it/attualita/2016/12/20/news/caro-poletti-avete-… | |
| ## AUTOREN | |
| Ambros Waibel | |
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