# taz.de -- „Der Fall Meursault“ in München: Postkoloniales Spiegelgefecht | |
> Die Kammerspiele München bringen „Der Fall Meursault“ auf die Bühne – | |
> eine Gegendarstellung zu Camus' „Der Fremde“. | |
Bild: Stimmt hoffnungsvoll: „Der Fall Meursault“, inszeniert von Amir Reza … | |
Albert Camus’ Musterexistenzialist Meursault wünscht sich am Ende von „Der | |
Fremde“ nur eines: „Am Tag meiner Hinrichtung viele Zuschauer, die mich mit | |
Schreien des Hasses empfangen.“ Gut 70 Jahre später beschließt der | |
algerische Journalist Kamel Daoud [1][sein Romandebüt] mit dem Satz: „Ich | |
hätte auch gern, dass meine Zuschauer zahlreich seien und unbändig in ihrem | |
Hass“. | |
„Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“ rollt den Mord eines Franzos… | |
an einem „Araber“ am Strand von Algier wieder auf, der bei Camus motiv- und | |
namenlos bleibt. Daoud nennt den Gemordeten Moussa und erfindet ihm eine | |
trauernde Mutter und den unter der Last dieser Trauer begrabenen Bruder | |
Haroun, der als Icherzähler der Geschichte des „Franzosen“ widerspricht und | |
sie spiegelt, denn Haroun wird am Ende auch zum Mörder – und auch er fast | |
zufällig. | |
„Du bist selbst schuld, wenn du so laut atmest“, sagt Harun, wie man ihn an | |
den Münchner Kammerspielen schreibt, zu seinem Opfer Joseph, das lange | |
darauf wartet, dass der Schuss ankommt, der ihn treffen soll. Gundars | |
Āboliņš hat zuvor auch Meursault gespielt, in gewisser Weise trifft Haruns | |
Rache hier also endlich den Richtigen. | |
Für Amir Reza Koohestani aber gibt es diesen Richtigen nicht. Der | |
Enddreißiger, der – seit seiner Arbeit „Dance on Glasses“ 2001 weltweit | |
bekannt – im Iran wie in Europa inszeniert, arrangiert den vor wenigen | |
Wochen von Johan Simons uraufgeführten [2][„Fall Meursault“] zu einem | |
freundlichen epischen Narrativ ohne Camus’ Kälte und Daouds | |
Sentimentalität. Ohne jede Bitterkeit fragt er danach, wie ein einziges | |
Ereignis nicht nur „das Gleichgewicht des Tages“ (Camus), sondern eine | |
ganze Gesellschaft zerstören kann. Dieses Ereignis ist in Koohestanis | |
szenisch-filmischer Collage weniger der Mord als die Erzählung von dem | |
„Fremden“, die man den Menschen einimpft. | |
Harun wurde diese Spritze von seiner Mutter verabreicht, die in München im | |
schwarzen Kopftuch an die Rampe tritt, noch ehe das Licht im Zuschauerraum | |
ausgeht. In gebrochenem Deutsch legt Mahin Sadri los, um sich bald in eine | |
Litanei auf Farsi zu stürzen, die sie im Laufe der kommenden 90 Minuten | |
mehrfach wiederholt. | |
Was die Übertitelung als Klage ausweist, wirkt optisch wie akustisch als | |
Bedrohung, auf die später eine junge Französin im Liegestuhl reagiert. | |
Belästigt von der Frau, die sie weder versteht noch verscheuchen kann, | |
verweist sie auf ihr Recht, sich zu entspannen und tobt schließlich los: | |
„Euch kann eh keiner leiden, und wenn ihr euch auch noch so aufführt …“ | |
## Vom Kolonialismus zum Tourismus | |
In Momenten wie diesen, die den Bogen schlagen von den einstigen | |
Kolonialherren zu den Strandtouristen und Neo-Nationalisten von heute, ist | |
der Abend groß, mit dem Matthias Lilienthal seine zweite Münchner Spielzeit | |
eröffnet. Und auch in einigen seiner Bilder, etwa wenn anfangs schwere | |
Säcke über die Bühne gezogen werden, aus denen langsam Sand rinnt. | |
Auf der dreistufig mit Perserteppichen belegten Bühne, die an die leeren | |
Räume Peter Brooks erinnert, ist Harun dreigeteilt; trottet als Kind seiner | |
übermächtigen Mutter hinterher, kaut als junger Mann (Samouil Stoyanov) | |
lethargisch an seinen Worten oder steckt als alter Witzbold (Walter Hess) | |
den Kopf aus dem Bühnenboden, weil ihm als einem, der „keine einzige Stunde | |
meines Lebens an Gott verschwendete“, das Betreten der Moschee verboten | |
ist. | |
Die drei Haruns begegnen ihren Toten und einander auf verschiedenen Zeit- | |
und Handlungsebenen. Auch wenn das Klären der Verhältnisse – „Hey, Harun, | |
du bist ich in jung“ – manchmal läppisch wirkt, stimmt dieser Umgang mit | |
der Geschichte hoffnungsvoll. Als könnten „erste Lügen“ durch Zuruf | |
verhindert werden und Mörder und Opfer sich kennenlernen, so lange die | |
Kugel noch fliegt. Wenn man einander und die Dinge nur beim Namen nennt. | |
Ach! | |
4 Oct 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.kiwi-verlag.de/buch/der-fall-meursault-eine-gegendarstellung/978… | |
[2] https://www.muenchner-kammerspiele.de/inszenierung/der-fall-meursault | |
## AUTOREN | |
Sabine Leucht | |
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