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# taz.de -- Krieg in Afghanistan: Nur Egoisten überleben
> Seit über 35 Jahren herrscht Krieg. Über ein Zehntel der afghanischen
> Bevölkerung ist auf der Flucht – die meisten im Land selbst.
Bild: Afghanische Flüchtlinge, die aus dem Nachbarland Pakistan zurückgekehrt…
Kabul taz | Unsere Landsleute benehmen sich doch nicht allzu schlecht in
Europa?“, fragt der Taxifahrer am Flughafen. Ein bescheidener Mann aus der
Umgebung Kabuls, der noch nie das westliche Ausland besucht hat, machte
sich also auch über derartige Dinge Gedanken. Dann beginnt er von
verschiedenen Ereignissen, von denen er in den Nachrichten gehört hat, zu
erzählen – unter anderem auch von der Kölner Silvesternacht.
Tatsächlich berichteten auch einige afghanische Medien darüber. Auf die
Frage, ob er denn auch ins Ausland wolle, schüttelte er den Kopf. „In
diesem Leben wird das nichts mehr. Dafür fehlt mir das Geld“, meinte er.
Für die Flüchtlingsdebatte innerhalb der afghanischen Gesellschaft ist
diese Anekdote symbolisch. Denn was in Deutschland in den Hintergrund
gerät, ist die Tatsache, dass geflüchtete Menschen keineswegs eine homogene
Gruppe sind.
Da gibt es zunächst diejenigen, die es sich leisten können, nach Europa zu
ziehen. Das ist die Minderheit, und die meisten sind finanziell auf der
sicheren Seite. Ihnen steht die große Masse derjenigen Vertriebenen
gegenüber, die sich nicht viel mehr leisten können als eine Flucht von
einer afghanischen Provinz in die andere und die dabei oft nicht mehr
retten können als ihr Leben. Schließlich die Gruppe derer, denen eigentlich
schon vor Jahren, hauptsächlich in den 1980ern während des Kriegs gegen die
Sowjetunion, die Flucht nach Pakistan gelang und die nun von Pakistan aus
abgeschoben werden – zurück nach Afghanistan.
„Die meisten Afghanen, die in diesen Tagen nach Europa ziehen, haben im
Vergleich zu vielen anderen Menschen hier einen gewissen Wohlstand“, sagt
der 22-jährige Nawidullah. Und er muss es wissen, denn er lebt von ihren
Plänen – nicht als Schlepper, sondern als Ein-Mann-Betrieb vor der
Passausstellungsbehörde in Kabul. Wie viele andere Afghanen hat er keinen
Familiennamen – schlicht weil es die in der afghanischen Kultur nicht gibt.
Wenn Afghanen dann in den Westen kommen, ist der Familienname, den sie sich
selbst geben oder bekommen, ein Hilfskonstrukt.
## Zwischenetappe Iran oder Türkei
Nawidullah trägt ein weißes Käppchen und einen kurzen Bartansatz. Vor ihm
steht ein kleines Kopiergerät, ein Ventilator und eine Kanne Tee. Seit dem
vergangenen Jahr herrscht vor dem Amt rege Betriebsamkeit. Tagtäglich
kommen Hunderte, nicht selten auch Tausende Menschen hierher, um ihren
neuen Pass abzuholen. Denn es gilt: Es ist einfacher, Afghanistan zunächst
auf legalem Weg zu verlassen, etwa über den Iran oder die Türkei. Erst
nachdem diese Etappen gemeistert worden sind, ziehen die meisten gen Europa
weiter.
Nawidullah gehört nicht zu jenen, die auswandern wollen. An seinem Stand
bietet er Kopien und Passfotos an. „Das Geschäft boomt. Viele wollen hier
immer noch raus, und das ist auch verständlich. In diesem Land herrscht
Krieg und finanziell sieht es auch sehr schlecht aus“, sagt er. Seine
eigene Ausreise kann sich der junge Afghane trotz des guten Geschäfts nicht
leisten. Stattdessen unterstützt er seine Familie mit dem Geld, das er
verdient.
Viel konkreter sind Ajmals Pläne. Zufrieden verlässt der 27-Jährige das
Amt, seine Dokumente in der Hand. Sein Ziel ist die Türkei, wo er vorerst
bleiben will. „Nach vielen Scherereien verlassen mein Bruder und ich
endlich Kabul. Unsere Mutter wird mitgehen“, meint er erleichtert. Einer
der Hauptgründe für seine Ausreise sei die Sicherheitslage in Afghanistan.
„Immer wenn ich das Haus verlasse, bin ich mir nicht sicher, ob ich
zurückkehren werde. Stets plagt mich der Gedanke, von der nächsten Bombe
mitgerissen zu werden und meine Mutter nie wieder zu sehen. Es gibt hier
wirklich nichts mehr, was mich hält“, sagt Ajmal.
## „Ich will zurückkehren“
Zabihullah hingegen will Afghanistan nur zeitweise den Rücken kehren. Der
24-Jährige hat bloß ein Visum beantragt. Er will in den Iran, um dort einen
Master-Abschluss zu erlangen: „Ich kann verstehen, dass viele Menschen
Afghanistan verlassen. Hier gibt es weder Arbeit noch Sicherheit. Aber es
ist dennoch meine Heimat. Ich will zurückkehren und hier etwas aufbauen“,
sagt er.
Seit über 35 Jahren herrscht Krieg in Afghanistan. Bevor der Konflikt in
Syrien ausbrach, stellten Afghanen weltweit die größte Gruppe von
Geflüchteten dar. Laut den UN belegen sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nach
Menschen aus Syrien den zweiten Platz. Über ein Zehntel der afghanischen
Bevölkerung befindet sich auf der Flucht. Der überwiegende Teil sind jedoch
Binnenflüchtlinge.
In den letzten Jahren haben sich im Umkreis von Kabul zahlreiche
Zeltsiedlungen gebildet, das Flüchtlingslager, welches schlicht „Helmand
Lager“ genannt wird, ist eines davon. Für die Menschen, ist die Lage
verzwickt: In ihren Heimatprovinzen herrscht Krieg. Sie können also vorerst
nicht zurück. In der Hauptstadt werden sie aber von der ansässigen
Stadtbevölkerung teils wie Ausgestoßene, ähnlich wie Roma und Sinti in
europäischen Staaten, behandelt und stellen die Ärmsten der Ärmsten dar.
Eine Flucht ins Ausland, etwa nach Europa, können sich diese Menschen meist
nicht leisten.
## Katastrophale Zustände
„Wir sind diejenigen, die hier wirklich tagtäglich um ihr Überleben
kämpfen. Jeden einzelnen Tag frage ich mich, ob und wie lange ich noch
meine Familie ernähren kann“, meint Daoud. der mit seiner achtköpfigen
Familie im „Helmand Lager“ nahe Kabul lebt – zusammengepfercht auf engstem
Raum und unter katastrophalen hygienischen Zuständen. Einige Laken sind auf
dem Boden zerstreut. Ein paar Kissen dienen als Sitzgelegenheit.
Von draußen dringt Gestank in das Zelt, in dem es von Ungeziefer wimmelt.
Wie die meisten anderen Geflüchteten im Lager stammt er, wie der Name des
Lagers deutlich macht, aus Helmand, einer Provinz im Süden des Landes, in
der sich die afghanische Armee und die Taliban aufs Heftigste bekriegen.
„Im Westen denkt man, alle Menschen, die aus Afghanistan flüchten, seien
gleich. Doch die meisten, die nun nach Deutschland oder Schweden flüchten,
haben jahrelang ihre Taschen gefüllt. Sie leben in luxuriösen Wohnungen
oder kaufen sich Häuser in der Türkei. Ihre Situation ist mit unserer kaum
zu vergleichen – doch an uns denkt niemand“, sagt Daoud wütend.
## 1,2 Millionen Binnenflüchtlinge
Sowohl die afghanische Regierung als auch die internationale Gemeinschaft
stehen in der Kritik, für die internen Vertriebenen zu wenig zu tun.
Amnesty International spricht von mindestens 1,2 Millionen
Binnenflüchtlingen in Afghanistan. Menschen wie Daoud fliehen aus ihren
Heimatprovinzen nicht nur vor den Taliban oder anderen extremistischen
Gruppen, sondern auch vor den Militäroperationen der afghanischen Armee,
bewaffneten Milizen oder US-amerikanischen Luftangriffen.
Neben den Binnenflüchtlingen und jenen, die Richtung Europa ziehen, lässt
sich mittlerweile eine weitere Gruppe von Geflüchteten in Afghanistan
finden. Seit geraumer Zeit werden nämlich auch Afghanen aus Pakistan
abgeschoben. Seit dem Krieg gegen die Sowjetunion gehört das Nachbarland zu
den bedeutendsten afghanischen Flüchtlingszentren. Schätzungen zufolge
sollen zum gegenwärtigen Zeitpunkt drei Millionen Afghanen in Pakistan,
hauptsächlich in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa, leben.
Die bereits seit Jahren angespannten pakistanisch-afghanischen Beziehungen
wurden in den letzten Monaten mehrfach erschüttert. Vor Kurzem kam es an
der Grenze der beiden Staaten zu einem Zwischenfall. Afghanische Soldaten
töteten dabei einen pakistanischen Major. Als Folge hat die Regierung in
Islamabad mit Massenabschiebungen begonnen.
## Eine paradoxe Situation
Täglich verlassen rund 5.000 Afghanen Pakistan. Menschen, die teils
jahrzehntelang dort gelebt und ihre Zukunft aufgebaut haben, sind nun
gezwungen, in ihre vom Krieg geplagte Heimat zurückkehren. Es ist eine
paradoxe Situation: Während die einen fliehen, kehren die anderen zurück.
Auch das trägt noch weiter zur Verschärfung der ohnehin bereits
angespannten Versorgungssituation im kriegsgebeutelten Afghanistan bei.
„Die Situation ist wirklich schlimm. Hier kümmert sich niemand um seine
Mitmenschen“, meint der 26-jährige Reza. Auch er wartet vor dem Ministerium
auf seinen Pass, um Afghanistan zu verlassen. Viele seiner
Familienmitglieder leben in Australien, wo sie ihn bereits erwarten. Einen
Ausweg aus der gegenwärtigen Situation sieht Reza nicht. „In Afghanistan
muss man Egoist sein. Nur so kann man hier überleben“, sagt er.
28 Sep 2016
## AUTOREN
Emran Feroz
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
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Pakistan
Binnenflüchtlinge
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